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Kall und Rother

Sie laufen eng nebeneinander her, wie ängstliche Tiere, die nur notgedrungen ihren schützenden Stall verlassen. In der Ampel wechselt das rote Männchen mit dem grünen, und sie überqueren die Stahlrinnen im Asphalt: Laufschienen für bunte Bahnen – da kommt gerade eine zum Stillstand, und sie setzen sich in Trab, erreichen sie noch, ehe sich die Türen zischend schließen.

Kall entwertet seinen Fahrschein, als ein Ruck durch die Bahn geht und er rückwärts stolpert. Er greift nach der Haltestange, verfehlt sie und wäre gestürzt, hätte Rother ihn nicht aufgefangen. Aber Kall will nicht wie ein Tapergreis behandelt werden und drängt ihn weg, sobald er wieder sicher steht.

Industriegebiet. Fabrikhallen und unabsehbare FORD-Stellflächen. Sie steigen aus, überqueren die Fahrbahn und biegen in die Straße ein, wo die Lumpenmänner ihr Domizil aufgeschlagen haben: wellblechgedeckte Ziegelhalle, vollgestopft mit Sperrmüll.

Blaumänner kommen ihnen entgegen, als wollten sie die beiden überrollen. Doch sie teilen sich vor ihnen, schließen sich hinter ihnen wieder zusammen und lachen über sie.

Aschgraue, zugige Halle. Armselige Gestalten ziehen hier ihre Kreise, und Kall und Rother mischen sich unter sie.

Hier sieht es aus wie auf einer geordneten Mülldeponie: alles säuberlich getrennt, Möbel zu Möbeln, Geschirr zu Geschirr und Kleidung zu Kleidung. Es gibt ganze Bücherräume: nur Schund, wie sie mit überfliegenden Augen feststellen. Ausgelatschte Schuhe: wer zieht die mürben, löchrigen und aus den Nähten geplatzten Dinger denn noch an? Lampen aus allen Stilrichtungen hängen von der Decke, und Wohnzimmerschränke ragen kreuz und quer, manche ohne Scheiben: schwarze Löcher wie ausgestochene Augen.

Kall und Rother schlucken Staub beim Wühlen in dreckigen, maroden Möbelstücken mit amputierten Beinen, herausgebrochenen Türen oder eingedrückten Seitenwänden, von denen der Lack wie bei einer Schuppenflechte abblättert. Ihre Hände starren vor Schmutz und ihre Blicke sind niedergeschlagen und ausdruckslos wie die der anderen in kaputten Sachen kramenden Leute, die den Schrott nach langem Prüfen und Wägen abtransportieren wie Ameisen abgestorbene Tannennadeln oder Reste eines verrotteten Blatts.

Kall und Rother quetschen sich durch einsturzgefährdete Möbeltürme, umgehen Porzellanstellagen, Klamottenständer und Spielzeughalden und stoßen im hintersten Teil auf übereinandergestapelte Sitzgelegenheiten: das sollen Stühle sein? Ratlos stehen sie vor der gegen die rückwärtige Mauer gelehnten Ramschwand – sozusagen ein Stuhlwald, aber einer, in dem ein Orkan gewütet hat: Bruchholzwüste.

Ein abgerissener Mann taucht auf, den sie erst für einen Penner halten. Er ist aber der Verkäufer hier und bietet ihnen Stücke an, die einfach nicht mehr zu gebrauchen sind – etwa einen verbogenen Bürostuhl ohne Sitzbezug, aber mit rostig herauswippenden Sprungfedern.

Enttäuscht schieben sie ab und werfen sich wieder in den Verkehr. Sie geraten fast unter die Stoßstange eines wie ein Dampfschiff trötenden Lasters auf hundert Rädern. Ein winzig wirkender Fahrer gestikuliert aus dem turmhohen Führerhaus und schimpft mit einem Mäusestimmchen.

Kall und Rother schlagen sich den Straßenkot von den Beinkleidern und wenden sich ab. Statt zur Bahn zurückzukehren, marschieren sie vorwärts, gemäß ihrer Devise, niemals einen Schritt zurückzuweichen. Entschlossen wie Kampfhunde, die sich lieber totprügeln lassen als nachzugeben, werfen sie sich in Blechlawinen und Abgaswolken, die sie beinahe ersticken und auch sonstwie benebeln. Denn anders ist es wohl kaum zu verstehen, daß sie schnurstracks auf die Müllverbrennungsanlage zuhalten, die an einen gestrandeten Ozeanriesen erinnert und Rauch wie eine Walfontäne ausstößt – dieser Vulkan speit Giftgase statt Lava: eine Art Ruß- und Schwefelstandarte.

Kall ist hier zum letzten Mal gesehen worden. Vielleicht hat er sich in den Ofenschlund gestürzt. Jedenfalls wurde jenseits des Zauns der Verbrennungsanlage ein Schuh von ihm gefunden: wie einst die Sandale des Empedokles am Schlunde des Ätna. Rother hat man in eine Anstalt gebracht, aus der er immer wieder ausbricht: um Stühle zu kaufen.


http://de.youtube.com/watch?v=WC6bQI6oE4w&feature=related

 

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