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Das Geheimnis

 

 

Tiefe Ruhe empfinde ich beim Anblick des Steins auf meinem Schreibtisch. Ich nehme ihn in die Hand, und er spricht auf seine Weise mit mir: stumm, mit seinem Gewicht und seiner Kühle. Die verwandelt sich in meinem Handteller in Wärme, während seine Form sich in ihn hineinschmiegt, bis wir eins geworden zu sein scheinen.

Nun haben wir die gleiche Temperatur. Ich spüre ein leises Pochen, als klopfte tief im Stein ein Bewohner, vielleicht sein Geist oder seine Seele, die mit mir verbunden ist. Das wird von mir erwidert mit dem Puls in meinem Handballen: ein weiches Kissen, von dem aus sich mein Daumen um den Stein legt – sanfte Umarmung, in Gemeinschaft mit den übrigen Fingern, die sich um den steinernen Gast schließen.

Er hat seltsame Farben und Strukturen, vom hellen bis zum dunklen Violett changierende Felder, und dazwischen, eingesprenkelt, ein Orange, das ins Rostbraune spielt. Doch der Hauptteil ist von kristallener Substanz: weder weiß noch grau, erinnert er an Eis, durchsichtig, aus dem eine Tiefe wie bei einem Teich hervorschimmert, in den der Blick nur begrenzt eindringt und bald schon auf Trübes stößt – so bleibt auch hier der Grund verborgen und geheimnisvoll.

Übereinanderliegende Schichten, säuberlich voneinander getrennt, als hätten sie sich in Jahrmillionen aufeinander abgelagert. Sie erinnern an Jahresringe in Baumstämmen – nur verläuft hier der Schnitt nicht über die ganze Fläche. Vielmehr knickt er plötzlich nach oben und bildet ein dickes, mit durchschimmernder Substanz ausgefülltes V, das auch an ein aufgeschlagenes Buch erinnert. Darüber die Schichten des unnachahmlichen Violetts mit hellen Einsprengseln: eine sternenfunkelnde Nacht, in die sich ganz oben wieder eine glasige Ablagerung hineinschiebt, wie eine mächtige Wolke.

Er ist nur ein Bruchstück aus einem größeren Massiv, abgesprengt von einem Mineraliensammler, der ihn zum Glück nicht geschliffen, geglättet und poliert hat, obwohl die Tönungen dadurch klarer und kräftiger hervorträten. Das kann ich aber auch erreichen, wenn ich ihn mit dem Mineralwasser aus meinem Trinkglas besprenge und einreibe. Da glänzt er auf einmal, und seine Flächen erscheinen viel eindringlicher, in denen sich nicht nur das äußere Licht spiegelt – auch leuchten die Farben und Strukturen jetzt aus dem Inneren deutlicher hervor.

Das Violett bekommt eine geradezu mysteriös aufgeladene Intensität. Seine Substanz hat trotz ihrer steinernen Schwere etwas Immaterielles und Flüchtiges, das an Tinte erinnert, die sich in Wasser auflöst. Aber auch die weißliche Stelle darunter, das dicke V wie aus Eis, scheint zu mehr Dichtigkeit, ja zu passivem Leben erweckt zu sein. So strahlen Bilder manchmal bei gewissem Lichteinfall wie von innen durch ihren Firnis, als wären sie plötzlich erwacht. Trotzdem bleibt eine Distanz zum Betrachter, etwas Abweisendes beim Anblick des Steins: eine gläserne Grenze, an der jeder begehrliche Zugriff abprallt.

Das äußere Licht bringt ihn zwar zum Glänzen, wird aber von der festen Materie abgewiesen und zurückgeworfen die etwas Hermetisches hat, in sich verschlossen und ruhend: eine ewige Wahrheit, weltabgewandt, obwohl verschwommen sichtbar. Wir haben keinen wirklich Kontakt, spüre ich plötzlich, und ein Heimweh erfüllt mich, eine unstillbare Sehnsucht – wonach? Es ist, als lade mich der Stein mit dem Wunsch auf, so zu werden wie er, still für immer, in Verbindung mit einem alles durchdringenden Geheimnis, das ich nur ahne.

Widerstrebend lege ich ihn zurück. Seine spiegelnde Oberfläche trocknet allmählich, wird stumpf, verschließt sich gleichsam vor meinen Augen. Sein Inneres ist nun wieder verschleiert, verborgen hinter der Maske des Unscheinbaren. Ich möchte seinen Kern enthüllen, wozu ich ihn zertrümmern müßte, und suche nach einem Hammer.

Schon hole ich aus. Noch eine Sekunde, und alles wäre zerstört. Da wird mir bewußt, daß ich dann immer noch außenvor wäre: das im Innern aufbewahrte Wunder wird sich ins Nichts verflüchtigen. So etwas habe ich schon als Kind erlebt: um einem Rätsel auf die Spur zu kommen, zerbrach ich mein Spielzeug, oder ich zerschnitt einen Salamander und hielt dann zwei zuckende Hälften in der Hand – so grauenhaft, daß ich sie fortwarf und weglief. Dem Schuldgefühl konnte ich aber nicht entkommen, und ich war untröstlich, etwas vernichtet zu haben, ohne dem Geheimnis auch nur im geringsten auf die Spur gekommen zu sein.

Beschämt lege ich den Hammer zurück. Der Stein schimmert matt violett, und mir ist, als zwinkere er mir zu.


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