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Fetzen

Eingesunken im eigenen Leben, dem heimatlichen Tümpel, strecke ich nur die Nase heraus. Ich bestreiche die schleimige, blubbernde Oberfläche mit meinem verhaltenen Atem: ein Frosch auf der Lauer. Bei jeder Bewegung ziehe ich mich zurück in die schwappende Entengrütze, die mich tarnend umfließt – auch mein Leib hat ihre Farbtöne und Sprenkel. Plötzlich stoße ich in die Tiefe hinab, mit kräftigen Zügen, wühle mich in den aufwirbelnden Schlamm und bin unsichtbar für den staksenden Storch, der blindlings mit seinem Schnabel stochert. Eingesunken in meinem trüben, auf der Stelle quappenden Element, mache ich dann, wie von Stahlfedern hochgeschnellt, einen Sprung hinaus ans mysteriöse Ufer – erstarre und belausche das dortige Treiben.

 

                   *

 

Warten, auf dem Sprung sein und doch nicht losschnellen wie von der Sehne geschossen. Es vollzieht sich etwas Geheimnisvolles unterhalb der Oberfläche: dem blinden Wasserspiegel über meinem Innenleben, in dem sich etwas bewegt. Eine Kräuselung, als gleite ein Karpfen gemächlich durchs Wasser. Er stößt von unten gegen den Spiegel. Die Zacken seiner Rückenflosse durchsägen die glänzende Scheidewand wie aus Quecksilber. Da sinkt er steinschwer hinab in die Tiefe. Habe ich mich getäuscht? Wieder dieses Warten – worauf? Auf einen Fang, der sich, ziehe ich ihn ans Licht, auflöst wie ein Traum, an den ich mich kurz nach dem Erwachen nicht mehr erinnern kann? Trotzdem: da ist etwas, wofür ich allerdings keine Gewißheit habe, nur ein unbestimmtes Gefühl.

 

                   *

 

Ständig ein allgemeines Angstgefühl vor allen möglichen Gefahren, wobei mehr ihre Möglichkeit als ihr wirklicher Eintritt (das wäre wie die Erleichterung nach einer unerträglichen Anspannung) die Furcht noch verstärkt – vergleichbar mit der Gewißheit eines Hypochonders, daß ihn schreckliche Krankheiten bedrohen. Bleibe ich verschont, beruhigt mich das nicht etwa: tritt keine Katastrophe ein, weckt das trotzdem nicht mein Vertrauen in ein gnädiges Schicksal – vielmehr erschreckt es mich immer mehr, daß bisher nichts passiert ist. Das unausweichliche Verhängnis wird dadurch erst recht gereizt, tobt zuletzt wie ein zurückgehaltener Kettenhund: sein Kläffen und Reißen am Halsband, das ihn stranguliert, bringt ihn nur in Rage, hetzt ihn auf bis zum Blutrausch. Angesichts dieses rasenden, noch verhinderten Unheils, selbst wenn ich es mir bloß einbilde, gerate ich in zunehmende Panik – ich verliere die Kontrolle und laufe nun tatsächlich Gefahr, mich ins nächstbeste Unglück zu stürzen, es selber auszulösen: so betrachtet, gefährden mich keine äußeren Umstände, sondern bin ich mir selbst das größte Risiko, und ich halte es mit mir allein nicht mehr aus.

 

                   *

 

Das Gefühl, gar nicht wirklich zu existieren. Es kompensieren, indem ich zu schreiben versuche, aber nicht leichthin, sondern mit äußerster Disziplin und Konzentration. In Außergewöhnliches, Inspiriertes, äußerste Tiefen vordringen wollen. Zaubern, etwas aus dem Nichts hexen – wie unbescheiden ist das, unerfüllbar: eine mir selbst gestellte Falle. Könnte ich den überzogenen Anspruch doch herunterschrauben und dann entspannt einen wenn auch nicht vollkommenen Text zustande bringen. So aber bin ich eingeklemmt in dem Schraubstock meiner Skrupel und lasse mich eher zerdrücken als beginnen zu können.

 

                   *

 

„Und würde ich mit einem Schlag, durch irgendeine Katastrophe alles verlieren, wäre ich doch noch nicht ganz am Ende, solange ich mir die Fähigkeit zum Schreiben erhalten könnte“, sagte der Mann: „Dieses Vermögen ist mir das Wichtigste, ein höheres Gut als materieller Reichtum, Gesundheit und allgemeine Anerkennung, auch mehr als erotische Erfüllung – das sind doch bloß zweitrangige Werte. Es ist, als diente ich einem einzigen Herrn, für den ich auch Entbehrungen und Schmerzen auf mich nähme und auf Erfolg und Macht verzichtete. Im Grunde träume ich von einer untergeordneten Stelle, die mich nur notdürftig ernährt, damit ich nicht verwöhnt und davon abgelenkt werde, etwas Beachtliches zu leisten: das ist meine Vorstellung von Heroismus.“ – „Also gut“, erwiderte sein Schicksal und hieb ihm die Beine weg, so daß er nur noch kriechen konnte: „Hör auf zu reden – fang an!“

 

                   *

 

Wenn es schon unerträglich geworden und das Sehnen in einen Schmerz übergegangen war, der von der Brust zum Zwerchfell ausstrahlte, sich im Solarplexus konzentrierte, wobei jeder Atemzug zu einem kitzelnden Ziehen wurde, einem Paradox aus Lust und Qual – dann ballte sich eine Faust in seinem Unterleib, bis er explodierte. Anschließend sackte er in sich zusammen: eine leere Plane, womit der Wind sein Spiel trieb – wie eine zerknautschte Zeitung wehte er über die Straße, und das Knistern knatterte in seinen Ohren, die nun so empfindlich waren, daß er das Zerbeißen eines Zwiebacks als krachende Detonationen wahrnahm.

 

                   *

 

Zurück an den Ort der Vergangenheit Kindheitsstätte – Wehmut: Regenbogen in eine Zeit, zu der jede Brücke abgebrochen ist, nur noch durch den Flug der Erinnerung erreichbar, und ich betrachte alles aus einer träumerischen Vogelperspektive, als ich den Ort betrete, den ich jahrzehntelang nicht mehr gesehen habe. Intensive Verdichtung, ein Gefühl, als sei die sonst unbemerkte Existenz unter Hochdruck geraten: geballte Spannung, aufgeladene Atmosphäre, die so schwer wie das Gewicht des Himmels auf mir lastet, das Atlas aufgebürdet ist. Die Vergangenheit, eben noch leicht wie das Vergessen, ist plötzlich zu Stein geworden, und ich wanke, werde von ihr zusammengepreßt wie eine elastische Masse: die Luft wird mir vom Empfinden der Zeit wie mit Fausthieben aus den plattgedrückten Lungen herausgequetscht, bis in mir nur noch ein Vakuum ist, das erstickende Gefühl der Vergänglichkeit, vermischt mit einem süßlichen Geschmack von Tragik. Irgendwann setzt die Wehmut wieder ein, nicht mehr sanft und gedämpft farbig, vielmehr blitzartig bunt: ein Feuerwerk von Assoziationen in meinem vorhin noch tauben Gedächtnis, als sei es vom Tode auferstanden. Ich bewege mich durch die Gegend meiner Kindheit, lasse ein Blitzlichtgewitter von Fragmenten über mich ergehen, werde fast niedergestreckt vom Hagelschlag der Erinnerungen und schmecke den Rost der Zeit wie mein eigenes Blut, das mir von innen in den Rachenraum rinnt – stumm erstaunt: hier war die Welt eines anderen Lebens, nun zertrümmert, die Details wie Splitter zerstreut in demselben Raum, in dem es einmal stattgefunden hat. Befremdliche Überreste meiner selbst am Originalschauplatz, noch gespickt mit authentischen Dingen, die das abgelebte Frühere umso absurder erscheinen lassen, verfälscht, unglaublich – da, der flache Garagenbau mit dem um den Blitzableiter gewickelten Stacheldraht, an dem wir hochgeklettert waren, um den hinaufgeschossenen Ball wieder herunterzuholen, und einmal hatte ich mir dabei fast den rechten Mittelfinger abgerissen, an dem ich jetzt noch eine Narbe habe, unten am Ansatz, kaum mehr zu sehen...

 

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Zwiespalt Früher war ich von obszönen Darstellungen angezogen, als hätten sie eine besondere Würze, je geschmackloser, umso appetitanregender, fesselnd in ihrer Monotonie und Stereotypie – gleich einer Sucht, die ein Außenstehender nicht versteht, die ihm gar Übelkeit bereitet bei der Vorstellung, sich selber damit abzugeben. Heute löst das mich damals Anziehende Aversionen in mir aus, und ich begreife meinen Geschmack von einst so wenig wie eine Katze, die Spaß am Spiel mit einer Maus hat oder, weniger weit hergeholt, wie Zuschauer bei einem Box- oder Stierkampf – ein Ekel befällt mich dann, und ich bin so damit beschäftigt, nicht kotzen zu müssen, daß es mich von dem Geschehen ablenkt und ich das Hochgewürgte gerade noch herunterschlucken kann. Ich bin mir übrigens auch sonst oft ein Rätsel, besonders im erregten Zustand welcher Art auch immer – so fremd dem Nüchternen: das soll ich eben noch gewesen sein? Ein feuchter Achselfleck, die Rundung einer Körperpartie, zumal ihr rhythmisches Vibrieren kann mir in verschiedenen Momenten völlig gegensätzlich erscheinen, erst recht Gerüche: vorhin berauschendes Odeur, kippen sie nun in bestialischen Gestank um, und ich rette mich in die Aromen süßer Parfüms oder flüchte in einen Blumenladen und sauge tief den frischen Blütenduft ein – auch eine Art Geschlechtsausdünstung, fällt mir dann plötzlich ein, und ich bezahle den gerade eingewickelten Riesenstrauß und renne aus dem Laden, ohne ihn mitzunehmen. Der Reiz des Derben, Deftigen ist zunehmend dem Sinn fürs Raffinierte, Feine gewichen: was mir das Obszöne einmal war, ist mir heute das Erotische, je platonischer, umso lieber – ich gehe auch nicht mehr in Rockkonzerte, sondern bevorzuge die Philharmonie. Trotzdem beschleicht mich das ungute Gefühl, daß ich mich nicht weiter und höher – vielmehr vom gärenden Leben hinweg entwickelt habe.

 

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Scheue Wesen Wenn man nicht an Wunder glaubt, treten sie auch nicht ein. Haben die Skeptiker recht, weil ihnen keine begegnen, oder unrecht, weil sie die falsche Einstellung zu ihnen haben? Bereitschaft, Erwartung, Offenheit – ohne dem läuft nichts. Sind sie mir aber willkommen, locke ich sie hervor: scheu und empfindlich, angewiesen auf meine bejahende Freude – roter Teppich für ihre Zutraulichkeit. Nicht leicht, ihr Zögern und Zaudern zu überwinden, sie zum Kommen, Herabsteigen zu überreden. Aber sie sind doch von Anfang an da – ich muß nur mein Bewußtsein für sie entwickeln. Trotzdem sind sie wie heikle Personen, schreckhaft, schnell vergrault, verhindert, abgehalten durch mein Mißtrauen. Vorbehalte – Wunder spüren sie genau, hellsichtig, sind mit feinsten Sensoren ausgestattet, nichts als durchdringender Scharfblick. Sie beehren nur die ihnen Hingegebenen mit ihren Gaben – niemals die Angepaßten, Integrierten, mit beiden Beinen fest auf dem Boden Stehenden: Feinde jedes Wunderbaren, Außerordentlichen. Zweifler: Totengräber mystischer Erscheinungen, Entzauberer, Feenkiller, die dann auch noch behaupten, es gebe sie nicht – zynische, nein, idiotische Beweisführung! Diese Hornochsen vereisen ihr zauberhaftes Wesen, das geistige Fluidum, gefrieren es zu toten Kristallen, die dann wie Hagel vom Himmel fallen und alles Ahnungsvolle erschlagen. Wunder benötigen dienende Geister, abwegig lebende Weise, die mit einem Bein in der Luft hängen, während sie mit dem anderen an der Schwerkraft der Realität festgekettet sind. Ohne diesen vorbereitenden Boden können sie nicht Wurzeln fassen: zarte Pflanzen, die sich entfalten, leuchtend, farbig – sieh nur die blühenden Gärten ringsum!

 

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Verlust Donnerschlag – sein Echo rollt in mir nach wie in einem Talkessel, als mir klar wird, daß ich durch unsachgemäße Sicherung sämtliche Dateien verloren habe: einen Großteil weniger wichtiger Notizen, was zu verkraften ist, nicht aber der fertiggestellte Roman eines Freundes und mein eigener, von denen ich zufällig je eine einzige Kopie hatte, deren freie Rückseiten ich allerdings als Schmierpapier verbraucht habe. Während der Freund seinen Text mit Hilfe der handschriftlichen Vorarbeiten zu rekonstruieren sucht, wühle ich in den Papierschnipseln der Kopie von meinem herum und versuche das Puzzle zusammenzulegen: eine verzweiflungsvolle Aufgabe – noch größer aber die Verzweiflung, als mir aufgeht, daß es nicht gelingen wird. Trotzdem tage- und wochenlange Kniffelarbeit. Wachsende Panik: niemals zu schaffen. Durch die Unmöglichkeit der Wiederherstellung wird der Wert des Textes subjektiv ins Unermeßliche gesteigert: als hätte ich ein Kind verloren. Schmerz der Vergeblichkeit. Ohnmacht, Resignation, Zerknirschung und das Gefühl, nie wieder schreiben zu können. Verlust von etwas Unersetzlichem – dieses Trauma lähmt und blockiert mich. Versteinert starre ich zurück, und die Wut auf meinen Leichtsinn und die Unzulänglichkeit, es wieder gut zu machen, vergiftet und zermürbt mich durch und durch.

 

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Rückbesinnung Kurzsichtig: alles verschwommen. Die Augen gemartert, mißbraucht, tagelang dem Computerbildschirm ausgesetzt. Es kommt ihnen wie ein Freigang nach verbüßter Haft vor, als ich ihnen endlich ein Bad im Bunt herbstlichen Laubes auf einem Spaziergang erlaube: ihr trunkenes Schmetterlingsgaukeln im Rausch satter Farben und sanfter Konturen – so anders als die Schnitte scharfer Buchstabenstriche, die ihre Glaskörper zerkratzten. Tränend genesen sie. Sich ausbreitender Frieden. Dankbarkeit. Schmerzende Überreiztheit – besänftigt. Sensibilisiert durch die vorhergegangene Schändung, sind sie nun wach für die Schönheit unscheinbarster Dinge, früher nie wahrgenommen, weil unsichtbar in ihrer Selbstverständlichkeit. So erging es mir nach der strengen Diät auf Grund einer Krankheit – während der erzwungenen Fastenzeit hatte mein Geschmack eine erstaunliche Hellsichtigkeit entwickelt. Ähnlich auch jetzt: selbst sonst Verschmähtes wird mir überaus appetitlich – gleichsam trockenes Brot oder Pellkartoffeln für meine ausgehungerten Blicke. Genuß für die Geschundenen: die Wegwarte aus dem Asphaltriß  – mystische Erfahrung des Entlassenen, den eine hellviolette Hoffnung durchflutet, verzaubert durch die Berührung einer magischen Kraft aus einer anderen Dimension.

 

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Verfall In der Angst, sonst meine Zähne zu verlieren, wie mir der Arzt prophezeite, nehme ich mir vor, mich ab heute der Prozedur zu unterziehen, sie mit Zahnseide, die ich gewaltsam in die Zwischenräume einführe, zu reinigen. Abends im Bett, vor dem Einschlafen, fuchtele ich ungeübt und hilflos mit diesem versehentlich ins Fleisch sägenden, auf Blut, Belag und Verrottungsgestank stoßenden Faden herum. Angewidert vom eigenen Speichel, mit von Maulsperre schmerzenden Kiefern, ziependen Zahnhälsen, die wie der Untergrund eines auf Pfählen gebauten Dorfes aus dem zurückweichenden Zahnfleisch aufragen. Der um diese Pfosten reibende Glitschstrick (so kommt es mir vor), rutscht mir dauernd von den eingeschnürten, violett angelaufenen Fingern, um die er geschlungen ist. Mit dem Drahtseil saubergeschliffene Fundamente – blankgewienert wie der Unterbau eines gepflegten Grabsteins, der sich marmorweiß vom Sockel aus nach oben reckt und im Verein mit den Nachbarn ein Korallenriff um mein Inselinneres bildet: dräuender Damm, Palisaden hinter den hochgezogenen Lippen – grinsendes Blecken und Grimassieren mit rollenden Augen. Fürchterlich anstrengend und kompliziert. Schweißausbruch, zitternde Hände, entnervtes Aufgeben und Natschen an hängengebliebenen, festklemmenden Flusen vom Faden – da zerreißt er, vollgesogen mit meiner Verwesung: Kehrseite meiner Fassade.

 

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Wirrtanz Du redest, Mutter, sowie ich dich frage, nur Wortsalat, brabbelst wirres Zeug, als sei das selbstverständlich, lächelst dabei oder bist ernst, als wäre es wichtig, bedeutsam, was dir da aus tiefster Seele aufzusteigen scheint, und schon hast du es wieder vergessen, während du auf dem Wort noch herumkaust, das es ausdrücken soll: was? Du weißt es nicht mehr, stammelst pro forma weiter, drehst einen Phantasiebegriff daraus, unsinnig, kindisch – so entstehen seltsame Gebilde, verbale Paradoxien, die dir entschlüpfen, geisterhafte Frösche, wie sie aus dem Mund der Marie im Märchen sprangen, sobald sie den Mund aufmachte, sich widersprechende Assoziationen, aufgelöst im Moment ihrer Entstehung, unvereinbar und doch zusammengeschmolzen wie stets sich wandelnde Wolkengebilde. Wörterkentauren, Mensch-Ding-Tiergestalten oder einfach bloß Worttrümmer, fragmentarische Laute, Vokale mit angehängten Konsonanten, einem Zischen, Keckern oder Zungenrollen bei verdrehten Augen, erst stockend, dann flüssig aneinandergereiht, emphatisch ausgestoßen, mit echtem Gefühl, als sei es ganz wirklich, authentisch: konkret kommt es hoch und verdunstet schon im Vagen, während es dich noch verläßt, und irritiert guckst du dich um, wie ein Schlafwandler, der, eben noch sicher, plötzlich den Abgrund erkennt, über den er balanciert ist – da stürzt du ab in eine heillose Panik, ruderst im Leeren, mit hysterischem Blick. Ich nicke beruhigend, heuchle Zustimmung, als hättest du mir aus dem Herzen gesprochen, ergreife deine Hand und halte sie fest, stellvertretend, damit du wieder Tritt faßt im Bodenlosen – Grund, wundersam unter die strampelnden Füße geschoben. Du taumelst noch etwas, stolperst breitbeinig wie auf schwankenden Planken und beruhigst dich dann, siehst mich unsicher an, und ich nicke wieder bestätigend. Da redest du weiter, ermutigt, voller Mitteilungsdrang: Wortsalat, bis du erneut mißtrauisch wirst, und dein lauernder Blick, ob ich dir auch noch folge – du kannst es nicht mehr und suchst Gewißheit bei mir, einen Sinn in dem bedrohlichen Nonsens, der dir zwanghaft heraussprudelt, und ich zucke mit keiner Wimper, damit du nicht abstürzt in deinem Tanz durch die Luft...

 

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Lebenseinbruch Beim Hören der Haffner-Sinfonie auf dem Fahrrad in ländlicher Gegend. Die Klänge explodieren über den Kopfhörer in meine Ohren: akustische Sprengsätze. Ich lange mit einer Hand in die Seitentasche meiner Jacke, fingere am MP3-Player herum, um die Lautstärke zu drosseln, drücke aber auf den falschen Knopf und drehe sie noch mehr auf – mir platzt fast der Schädel. Abrupt bremse ich und schlingere in den Straßengraben, weil ich nicht mit beiden Händen lenke – vielmehr reiße ich mit der immer noch hantierenden entnervt den Klinkstecker heraus. Schlagartig Stille: Wucht des völligen Schweigens. Wie um diese Leere auszufüllen, als schieße Vergangenheit durch einen Riß in das lautlose Vakuum, füllt es sich mit Bildern von früher, hervorgezaubert durch die gerade zum Verstummen gebrachte Musik. Ihre süßen Klänge haben längst erloschene Stimmungen wiederbelebt. Damals hielt ich es vor Liebeskummer nicht mehr aus. Gleichzeitig genoß ich das Leiden und verstärkte es noch mit masochistischer Lust, indem ich das Gesicht des Mädchens heraufbeschwor, das meine Gefühle nicht erwiderte. Es tat zwar äußerst weh, trieb mich aber trotzdem nicht über meinen Tellerrand hinaus: ich lebe immer noch und stehe jetzt mit einem Fuß im Wasser – kalt sickert es in meinen Schuh. Die Schwärmerei hat sich wie meine Jugend in Luft aufgelöst. Die emotionale Gewalt von damals werde ich nicht mehr erleben – außer in der Erinnerung: plötzlich erwacht, ausgelöst durch die Fünfunddreißigste von Mozart, die ich ewig nicht mehr gehört habe. Wohl deshalb hielt sie das Andenken an meine erste Liebe wie eine Kostbarkeit in sich verwahrt: eine Klangkapsel, nun aufgeplatzt wie ein Samenkorn in meinem Gedächtnis. Ich stapfe aus dem Straßengraben, stöpsele den Kopfhörer ein, steige aufs Rad, und beim Weiterfahren wächst die Sehnsucht nach der Intensität von einst: so frisch – dagegen bin ich heute abgestorben wie ein morscher Baum.

 

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Gerade noch geschafft Wenn ich die alten Frauen, die ich ins Klo vor die Kachelwand gefahren habe, auffordere, sich an den beiden Haltegriffen festzuhalten und vom Rollstuhl aufzustehen, muß ich oft, da ihnen die Kraft dazu fehlt, nachhelfen, indem ich sie am Hosenbund wie am Schlafittchen fasse, hochziehe und nach vorn drücke. Ich rede ihnen zu. Da ihr Schließmuskel nun vom eigenen Gewicht befreit ist, entweichen Blähungen in kleinen Fürzen: lautmalerische Girlanden. Ich halte die Luft an, zerre alles an ihnen herunter: Jogginghose, Strumpfhose, Unterhose, Netzhose, Einlage – ehe sie, altersschwach zitternd und ängstlich jammernd, kollabieren, und lege ihre runzligen, von den Druckstellen rotgestriemten, in labberigen Falten herunterhängenden Gesäße frei. Gestank – ich atme flach durch den Mund auf und verlasse schleunig den Raum. Hinterher klammern sie sich erneut an den Haltegriffen fest, während ich, Papier in der einen Hand, die baumelnden Gesäßhälften mit den gespreizten Fingern der anderen auseinanderhalte. Kotverschmierte Hämorrhoiden: abtupfen, vorsichtig. Urintropfen perlen mir über den Handrücken. Ihr „Ach“ und „Oh weh“, worauf ich mit einem aufmunternden „Gleich vorbei“ reagiere. Ausdünstungen aus dem Klosett – der Blick hinein läßt mich würgen. Schon knicken ihnen die Beine weg, sacken sie schwer in sich zusammen – in ihre Hosen hinein, die ich mit beiden Händen aufhalte und an deren nachgiebigen Gummibändern ich sie dann nach hinten in den Rollstuhl bugsiere: puh, gerade noch geschafft.

 

 

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Lichtblick Alte Menschen tappen an den Flurwänden mit Haltegriffen entlang oder ziehen sich, im Rollstuhl sitzend, daran vorwärts, ziellos, hin und her. Teilweise dement, brabbeln sie vor sich hin, murmeln immer das gleiche: „Ich will nach Hause“, „Ich will zu meiner Mutter“, „Ich muß Pipi“, „Wann komme ich ins Bett“, „Hallo Herr Wärter!“ – damit bin ich gemeint, doch ich laufe mit abwehrenden Handbewegungen an ihnen vorbei, auf die rote Lampe über einer Zimmertür zu, wo einer nach mir geklingelt hat. Als ich wieder herauskomme: dasselbe Bild. Ich brumme mehr, als daß ich Antwort gebe, erhebe gereizt meine Stimme oder senke sie beschwichtigend – lautmalerische Botschaften zu dem Zweck, sie mir vom Leib zu halten, diese absurden Gestalten im langen Gang mit ihren Bitten, Fragen, Klagen und Verstörungen. Alltag auf einer Station im Altenheim, an einem regnerischen Nachmittag, der sich endlos dahinzieht: das Ende der Dienstzeit in unerreichbare Ferne gerückt. - Da erscheint das mit Geklirr sich ankündigende Küchenmädchen zwischen einem vor sich herschiebenden und einem hinter sich herziehenden Rollwagen, der vordere mit Geschirr und Besteck beladen, der hintere mit dem Abendessen in Kübeln und auf Platten – welch ein Lichtblick! Ihr Strahlen blendet und wärmt mich: durch eine dicke Wolkendecke hervorgebrochener Sonnenschein, und ich fühle mich gleich beschwingt, habe mein Lachen wiedergefunden, stecke sogar die Alten damit an, die sich plötzlich auch anders bewegen – ein komisches Ballett.

 

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Zweifelsgefahr Hinausgeworfen in eine neue Situation, etwa durch eine Reise: ungewöhnlich, da mit einer Mitfahrgelegenheit statt durch den bequemen Kauf eines Eisenbahntickets mit feststehenden Fahrzeiten. Hier aber ist alles offen. Versetzt mich der Fahrer? Fährt er verantwortungsbewußt und setzt mich sicher wieder ab? An welchem fremden Ort? Kann ich mich von dort aus orientieren und zu meinem Ziel gelangen? Wie sieht es mit einer Unterkunftsmöglichkeit aus? - Das weckt latente Ängste: Ungewißheit und Furcht, folgenreichen Unvorhersehbarkeiten ausgeliefert zu sein. Da wird das Gefüge des Daseins auf einmal fragil. Der Lebensbau, weil nicht taghell erleuchtet, scheint einsturzgefährdet, bedrohlich. Doch erst hier wird mir klar, wie sehr ich für gewöhnlich als Traumwandler dahinexistiere. Gefahren gibt es doch auch und erst recht im vertrauensseligen Schlaf – nur scheinen sie dann ausgeschlossen, nein, ich denke gar nicht daran. Aber bin ich mit wachsamen Augen nicht sicherer? Oder wird das Unglück erst durch mein Mißtrauen angezogen? Mein Gefühl von Dauer und Kontinuität – Illusion? Der Glaube, geborgen zu sein: leichtsinnig, tollkühn wie ein schwankender Steg über eine Schlucht, von der ich nichts weiß – schützende Ahnungslosigkeit, die sich wie fester Boden unter jeden meiner Schritte auf dünnem Eis schiebt.

 

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Jugendbild von Nietzsche Ein etwas feistes, grobknochiges, von großer Willensstärke zeugendes Gesicht, bulldoggenhaft, eher bäurisch als durchgeistigt, mit breiter Stierstirn, durchaus geeignet, gegen Wände nicht nur zu rennen, sondern sie auch zu durchbrechen, mit einem Ungestüm, einer mühsam zurückgehaltenen Kraft, gärend im Innern, gleichsam domestiziert von weißer Binde und Kragen, zugeknöpfter Anzugsjacke mit großem, gezacktem Revers sowie einer Nickelbrille mit kleinen, länglich auseinandergezogenen Gläsern: dünn umrandete Ovale, scheinbar an die Augen geklebt, gehalten von ebenfalls dünnen, hinter den Ohren festgehakten Bügeln, was den Eindruck eines zierlichen Zaumzeugs erweckt, dem Gesicht übergestreift, als sollte es den von Kopfschmerzen starrenden, kaum gebändigten Blick unter Kontrolle halten, die seitlich hochgerichteten Augäpfel zurückholen – darunter die an den Flügeln fleischige Nase und der aufgeworfene, dicklippige Mund, sinnlich, scheinbar angewidert geschürzt, vielleicht auch bloß mürrisch aufgrund einer verhaltenen Wut, aufmüpfig, grollend, noch nicht in offene Wildheit ausgebrochen, einen ihm selbst verborgenen Wahnsinn, den ich natürlich in diese Züge hineindeute, die eigentlich nichts Ungewöhnliches haben, höchstens eine verbissene Sturheit verraten, angedeutet von der schweren Kinnpartie, ihrer stumpfen Rundung, die in gewölbte Kiefermuskeln übergeht, welche einen kraftvollen Biß ahnen lassen...

 

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Ich, Ameise Die Erscheinungswelt als etwas betrachten, das ein Hinweis auf etwas ist, was über sie hinaus geht. Konkret: was ich mit Sinnen und Denken wahrnehme, ist nicht alles, sondern nur ein winziger Teil einer damit verbundenen Welt: die Spitze eines Eisbergs, von dem nur ein Splitter über der Wasseroberfläche aufragt – meinem Bewußtsein. Es existiert also nicht nur das, was ich sehe – vielmehr deutet das Sichtbare auf ein unermeßliches Unsichtbares hin, ist es ein Beweis für  sein Dasein, auch wenn es mein Wahrnehmungsvermögen weit übersteigt. Eine Ameise, die über die Seiten meines Buches läuft, das ich auf einer Parkbank lese, weiß nichts von dem Inhalt meiner Lektüre – trotzdem nimmt sie zumindest die Existenz dessen wahr, worüber sie gerade läuft: einen glatten, hellen Grund mit nur optisch schwarzen Hindernissen, Strichen, die sie beim Vorwärtskommen nicht stört. Daß diese Striche in mir eine virtuelle Welt erzeugen, ist völlig außerhalb ihres Bewußtseins. Nun stelle ich mir vor, auch so eine Ameise in einem anderen Kontext zu sein: ich bewege mich ständig durch Zeichen, die mich zwar nicht behindern, mir die Hinweise aber auch nicht preisgeben, die womöglich über ihre bloße Anwesenheit hinausreichen – weil ich zu beschränkt bin, sie zu entschlüsseln. Doch heißt das noch lange nicht, sie wären außerhalb meines Bewußtseins nicht da: damit würde ich ihre Dimensionen auf meine eigene Blindheit reduzieren, auf den winzigen Ausschnitt meines begrenzten Blickfelds – einfach lächerlich!

 

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Scham Scham ist immer nur im Kontext zu betrachten. Sie ist angewiesen auf die Beziehung des Individuums zu seiner Umwelt: die wirkt auf es ein, bringt ihm Verhaltensmuster bei oder zwingt sie ihm auch auf. Darum stelle ich mir eine einzelne Person erst mal als eine Tabula rasa vor, auf die alles mögliche gemalt werden kann – zum Beispiel auch etwas, das unter bestimmten Umständen Scham in ihr auslöst. So gesehen, ist Scham jedoch etwas Bedingtes, nur durch eine bestimmte Konditionierung wirksam: innerhalb dieser künstlich begrenzten Welt funktioniert sie. Wenn ich aber bedenke, daß Scham durch das Übertreten gewisser vorgegebener Verbote ausgelöst wird, kann ich daraus noch lange keine absoluten Gebote ableiten – das aber wird ständig gemacht. Also: ein Einzelner wird geprägt durch konkrete Erfahrungen, die besonders in der Kindheit oft an Dressur grenzen – milder „Erziehung“ genannt. Die Regeln aus diesen Erlebnissen erstarren zu einem Kodex, der gerade durch seine Unsichtbarkeit unangreifbar, aber unmittelbar wirksam ist: ein Mittel, Gesetze zu stabilisieren, ohne die alles in Unordnung geriete. Tief versenkte Gesetze – ihre Verankerungen reichen bis weit ins Unterbewußte, werden gleichsam zur zweiten Natur: eine Art moralischer Reflex neben dem noch tiefer hinabreichenden Instinkt. Zuletzt erreichen diese „Sanktionen“, wie ihr Begriff ja schon andeutet, etwas Geheiligtes, geradezu Gottgewolltes – sie scheinen nicht aus der Realität, sondern aus einer diffusen Jenseitigkeit zu kommen: Glaube an eine höhere Macht – allerdings nicht eingeboren, sondern hineinmanipuliert, nach mehr oder weniger heftigen Widerständen akzeptiert und zuletzt völlig verinnerlicht, gleichsam die moralische Entsprechung zum physischen Knochengerüst. Mir fallen die Gesetze ein, die Moses von Gott diktiert bekommen haben soll: aus stürmischer, blitzdurchzuckter Höhe – welch ein Theaterdonner! Der aber scheint nötig zu sein, um schlicht gehaltene Gemüter furchtsam und demütig zu machen. Eingeflößtes Schamgefühl ist da noch ein zusätzliches Mittel zum Zweck, den Machthabern oder selbsternannten Priestern die Vorherrschaft zu sichern. Sie schrecken selbst vor den grausamsten Maßnahmen nicht zurück. Basieren nicht viele Kulturen auf Angst und Schrecken in der Vorzeit? Später wurde das verschleiert, in milderes Licht getaucht – das gehört zu den raffinierteren Theatereffekten. Nicht nur die Azteken, auch die Christen haben sich aus solchem barbarischen Urschlamm herausentwickelt – man werfe nur einen Blick auf ihre bestialische Geschichte: beschämend.

 

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Betroffenheit „Doktor Faustus“ von Thomas Mann. Schwerdtfeger, sein gewaltsamer Tod durch Ines in der Straßenbahn. Noch betroffener macht mich der durch furchtbare Krankheit sich hinziehende Tod des kleinen Nepomuk Schneidewein, Leverkühns Neffe, genannt Echo. Sein Tod bzw. die eindringliche Schilderung seines Sterbens – es ist ja kein reales, sondern das einer fiktiven Gestalt, allerdings in meisterhafter Sprache dargestellt. Also, der Tod dieses nur literarisch existierenden Kindes läßt mir unwillkürlich die Tränen in die Augen schießen. Ich tupfe sie mit einem Papiertaschentuch ab und frage mich, warum ich vorhin nicht geheult habe, als ich die Tagesschau sah, die abgeschlachteten Dorfbewohner in einem Kriegsgebiet.

 

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Eins der letzten Fotos von Kafka Dieses Gesicht. Licht und Schatten. Schwarz und Weiß, sehr kontraststark. Die Wange links sowie die Stirn: ein einziger See aus Helligkeit. Die Augenhöhlen aber, besonders unter den Brauen: eine Düsternis sondergleichen. Korrespondierend mit dem Rabenschwarz der Iris – darin ein reflektierender Punkt: Augen, so eindringlich, beinahe starrend, so ernst, stechend, nein, wissend. Als schauten sie das Grauen: ruhig, ins Unbestimmte blickend. Seltsam das Geschwungene und die Größe des Ohres links: fast überdimensional, faunisch. Vielleicht, weil das Gesicht so mager, knochig, zusammengezogen und ohne ein Gramm Fettgewebe ausgepolstert erscheint – es zeichnet die Linien klar, scharf, streng, abweisend, fast asketisch heraus. Der Nasenrücken, ein heller, vom Schlagschatten rechts akzentuierter, geradliniger Damm – ein Pfeil auf den feingeschnittenen Mund zu: ungemein ausdrucksvoll, dünnlippig, beinahe zackig im oberen Lippenschwung, eigentlich schön und doch nicht lieblich. Aber sinnlich, vielmehr grausam. Und doch lächelt er, kaum angedeutet – nicht sadistisch, sondern tieftraurig: eingeweiht in die Abgründe. Dieser Mann hatte einen gnadenlosen, durchdringenden Blick, jenseits allen Trostes, scheint mir. Dabei trotzdem sympathisch, allerdings wie jemand, den man nicht mehr erreichen kann. So stelle ich mir seinen Hungerkünstler vor – den Tod als einzige Erlösung noch vor Augen, so schwarz wie Dohlen: Kafka.

 

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Ein heikles Wort Mir fällt auf, daß Kafka eigentlich immer die Perspektive von unten bevorzugt, den Schmutz beschreibt, das Sinn- und Nutzlose, Schäbige, Demütigende, Alte, Banale, den Verlierer, Verurteilten, Außenseiter und Verzweifelten. Selbst unter den Tieren wählt er meist ein niedriges, das unterirdisch wohnt, Ungeziefer, Dachs und Maulwurf oder das Volk der Mäuse. Gut, einmal hat er auch das höchstentwickelte gewählt: den Affen, den aber im negativen Sinne des Wortes – wie er seine Wärter nachäfft und seiner Natur zuletzt doch nicht Herr wird. Ich frage mich, was mich daran so fasziniert. Andere schauen lieber auf die Welt der Geld- und Erfolgreichen, des nur noch in der Phantasie existierenden Adels aus glamourösen Zeiten, der Promis, des Sports und Lifestyles: eine ganze Journaille nährt sich ordentlich davon. Mich interessiert dagegen die kafkaeske Welt der Underdogs und Verstoßenen, das Insistieren auf das Verrottende, Erbärmliche, Glanzlose, Deprimierende: so viel anrührender – fast schon stereotyp in seiner existentiellen Vergeblichkeit, unschönen Ärmlichkeit und Stumpfheit sogar in Liebesdingen. Gegenteil des Idealen, romantisch Verklärten – ein Antikitschprogramm, dadurch umso eindringlicher, wirkungsvoller. Was, frage ich mich immer wieder, macht diese Sichtweise bloß so fesselnd, und ich finde stets nur eine Antwort: die schonungslose Wahrhaftigkeit – fürwahr ein heikles Wort.

 

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Max und Moritz Wie ist das mit Max und Moritz? Ihre Streiche werden als etwas Schlechtes, Unerhörtes dargestellt. Vielleicht sind sie aber nur Reaktionen auf Repressionen. Es heißt, Hunde werden erst scharf gemacht – und Kinder schlimm? Was, wenn ihre Untaten die Antwort auf vorher selbst erlittenes Unrecht waren? Warum werden die beiden nur so streng zur Rechenschaft gezogen? Sie sind doch unmündig, werden zumindest dafür erklärt. Sollen sie für ihre Unreife büßen? Feine Doppelmoral! Diese kleinen Barbaren sind Produkt einer Erziehung. Und die hält sie klein, dumm – damals war sie ein sadistisches Unterdrückungsinstrument gegen Heranwachsende. Das verkorkste Ergebnis haben also die Straf- und Rachsüchtigen selbst hervorgebracht.

     Es ist ja auch nicht recht, der armen Witwe Bolte die Hühner zu stehlen, dem Schneider Böck die Brücke anzusägen oder dem Lehrer Lämpel so arg mitzuspielen und Pulver in den Pfeifenkopf zu schütten. Später gab es Wirrköpfe, die Sprengsätze legten: aus Haß auf das verlogene Establishment, das wie die deutsche Eiche fest im braunen Boden wurzelte. Doch ich kann die Bubenstücke von Max und Moritz auch als einen aufbegehrenden, subversiven Akt betrachten: eine vielleicht makabre, aber nachvollziehbare Gegenwehr gegen diktatorische Erwachsene. Die haben sogar, zumindest in der Geschichte, die Todesstrafe für diese Minderjährigen parat: sie werden gebacken, in den Mühlentrichter hineingeworfen, kommen als kleingeschrotete Körner wieder heraus und werden sogleich von des Müllers Federvieh aufgepickt. Na, wenn da nicht mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird: nicht Auge um Auge, sondern Knabenbein um Hühnchenschlegel – wer ist denn eigentlich ärger als diese Lümmel? Dagegen kommen mir die Maikäfer in Onkel Fritzens Bett ziemlich harmlos vor. Vielleicht haben die Jungen außer Hunger und Quälerei nicht viel mitbekommen und deshalb auch nicht mehr zu zurückzugeben. Ach ja, wie auch im Struwwelpeter, sollte den Rotzlöffeln mit der eindringlichen Darstellung von drakonischen Strafen jegliche Renitenz ausgetrieben werden.

     Wilhelm Busch, der Autor, geht mit ihnen streng ins Gericht, nicht aber mit den sie bevormundenden Erwachsenen. Er soll sein Leben lang Junggeselle gewesen sein. Provozierten ihn vielleicht solche aufmüpfigen, pubertierenden Bengels? Signalisieren sie doch erwachende Sinnlichkeit und erotisches Gären: das, vermischt mit ihrer Dreistigkeit, läßt den Ausbruch aus dem Sittenkodex und den Einbruch rebellierender Anarchie befürchten – wenn das nicht zum Säuern bringt!

Auch heute werden randalierende Jugendliche auf offener Straße von Ordnungskräften zur Strecke gebracht. Und wie sich die Erwachsenen dann wundern: als hätte da ein Funke eine Wut zur Explosion gebracht, von der sie keinen Schimmer hatten!

 

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Gut und Böse Der gute alte Western. Amerikanischer Mythos, wo Gut und Böse noch klar unterschieden sind: man weiß, wer totgeschossen gehört, ist doch der Gute immer sympathisch. Hingegen die Schlechten: wie sie schon aussehen! Erst mal zurück zu den Guten: Pfundskerle! Strahlemann Siegfried – sein Gegenspieler: Finsterling Hagen. Eindeutig: kraft der Macht des Vorurteils – pardon, des Göttlichen, des Rechts überhaupt (fragt sich allerdings, wer es aufgestellt hat) und des Richtigen an sich (wer wagt, daran zu zweifeln, wird ebenfalls erschossen!), also kraft aller nur erdenklichen Höchstheiten ist das Gute klar wie Kloßbrühe und das Böse eindeutig wie einäugig. Selbstredend setzt sich das Positive letztendlich durch. Hier ist das Happyend so sicher wie das Amen in der Kirche. Notfalls hilft ein Deus ex machina etwas nach, heißt er nun Zeus, Jahwe oder Verfassung. Und deren Vollstrecker haben auch verschiedene Namen: Sankt Michael und seine Mannen, selbstherrliche Sheriffs à la Wyatt Earp, Doc Holliday oder Richter Gnadenlos und Minister Nulltoleranz. Lichtgestalten sind es, so attraktiv, wie sie instinktiv wissen, was Gerechtigkeit ist, nämlich etwas jenseits aller egoistischen Interessen, darum absolut wahr und so rein wie ihr Auftritt: frisch nach Brillantine duftend, selbst nach den ärgsten, schweißtreibendsten Schlägereien für Recht und Ordnung, unterlegt mit der Note eines herben, den kerligen Kerl gleichsam unterstreichenden Eau de Toilette – nicht zu verwechseln mit Wasserabschlagen im Urinal, nein, das machen nur die schmuddelig Bösen. Die überhaupt! Also, erst mal ganz klar vorweg: Verbrecher, Punkt. Häßlich sind sie, logisch, und unrasiert und ungewaschen, auch logisch, und scheeläugig und gemein und hinterhältig, erst recht logisch, und bocksbeinig und ziegenschwänzig und teufelsgehörnt und und und! Wenn nicht immer äußerlich, so doch umso sicherer innerlich. Das Perfide ist ja, daß die sich auch tarnen! Vorsicht also vor den unsichtbaren, versteckten und verheimlichten Lust- und Raubmördern. Und wer es noch nicht geworden ist, hat derlei Möglichkeiten in sich: Potenzen des Satanischen. Es gibt Merkmale, sie zu entlarven, und ehe der Schweinehund oder Teufel in ihnen zum Ausbruch kommt, sollten sie prophylaktisch entsorgt oder mindestens dingfest gemacht werden, damit sie weder unseren persönlichen Leib noch den Volkskörper allgemein beschädigen, beschmutzen oder sonstwie schänden können, was aufs gleiche rauskommt. Wenn schon nicht ausgemerzt – man macht sich ja nicht gemein mit den Unmenschen – dann wenigstens sicherheitsverwahrt, und zwar für immer! Sogar wenn diese raffinierten Chamäleons und Weltmeister im Tarnen noch gar nichts verbrochen haben, bloß damit wir nichts gegen sie in der Hand haben – nicht mit uns: Rü-be ab! oder, abgemildert, vorsorglich der finale Rettungsschuß. Notfalls müssen wir, Werkzeuge Gottes, auch mal als stellvertretender Deus ex machina einspringen und nachhelfen, damit die Sache rund läuft: verhetzen, denunzieren, Existenzen vernichten, die gefährlich werden könnten – warum wird sowas nicht anerkannt, dient es doch dem Gemeinwohl! Da sieht man mal wieder die Pfiffigkeit der Bösen: sie drehen es so, daß wir zuletzt als kriminelle Elemente dastehen. Unerträglich. Ach, ich träume von einer neuen Welt mit Vorbildern wie den Revolverheld in Nadelstreifen, der etwas wehmütig den Rauchkringel vom glühenden Lauf seines Revolvers bläst, ehe er ihn lässig ins Halfter gleiten läßt: geil! Und seht nur, die feschen Herren aus Wirtschaft und Politik: sie riechen nach dem teuersten Eau de Toilette – und wie stinken dagegen die Penner! Ergo: ist doch klar, wer das Schwein ist.

 

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Suizidale Anwandlung Die Frage, wie ich mich am besten aus diesem Leben schaffe, stellt sich mir in Abständen immer wieder. Dem zur Unerträglichkeit verkommenen Dasein entwischen. Wie das anstellen? Irgendwie assoziiere ich dabei eine große Sauerei: ich hinterlasse mich selbst als Kadaver – ungeheuerlich! Noch schlimmer: ich muß meinen Körper zu diesem Behufe versehren, will ich an das gewünschte Ziel gelangen. Muß ihm also Gewalt antun, sei’s durch Schnittwunden – gleich schwebt mir die um mich herum sich ausbreitende Blutlache vor, die meine treusten, schmählich von mir geschockten Hinterbliebenen dann auch noch wegwischen dürfen: nein! Oder der Sprung von einer schwindelerregenden Höhe und das Aufplatzen da unten. Apropos Zerbersten: wegspritzendes Hirn bei gräßlich entstelltem Kopf nach einem Schuß in denselben – auch das widerspricht meinem ästhetischen Empfinden so sehr, daß ich schon deshalb lieber weiter lebe und leide, als mir und anderen eine derartige Schweinerei zuzumuten. Bleibt das Verhungern. Es kommt meiner Feigheit, mir Gewalt anzutun, ziemlich entgegen, ist es doch eine passive Sterbensart, allerdings eine, die äußerste Willensstärke voraussetzt. Eine Selbsttötung auf diese Weise verschont mich vor geschmacklosen Ausübungen an mir selbst, die ich ja noch nicht mal an anderer Kreatur vollbringen kann. Ich wollte mal ein angefahrenes Kaninchen am Straßenrand von seinem Leid erlösen – allein, ich konnte es nicht, fand keinen Prügel, es totzuschlagen, oder Stein, den Schädel mit dem Blut aus der Nase und dem großen Angstauge einzudötschen: lief weiter, das quälende Bild vor mir, nicht auszulöschen. Oh, Unappetitlichkeit des Handansichlegens! Wie angenehm die Vorstellung eines kafkaesken Hungerkünstlers, der sich immer mehr ätherisch auflöst. Zuletzt bleibt seine bis auf Haut und Knochen ausgemergelte Hülle, schon zu Lebzeiten so mumifiziert, daß der verbleibende Kadaver nicht das Schreckensszenarium des Verwesens durchläuft. Oder den Mut eines Empedokles aufbringen und beherzt in den Ätna springen – da steckt auch das Wort Äther drin: ich, ein kerzengerades Rauchopfer direkt gen Himmel, sozusagen symbolisch. Aber das ist unverantwortlich vereinfacht – zurück auf den Boden der Tatsachen! Abgesehen davon: schon das dräuende Gespenst der absoluten Einsamkeit läßt mich zurückschaudern. Wie will und kann ich das gnadenlose Alleinsein und Hindämmern in aller Abgeschnittenheit aushalten? Und es geht ja nicht wie in einer Geschichte: der Körper löst sich nun mal nicht einfach in Wohlgefallen auf, erst recht nicht in Wohlgeruch. Eine Moorleiche wäre immerhin noch eine Alternative: ich würde nicht verfaulen, und die Menschheit entdeckte mich im Idealfall nach einigen Jahrtausenden wieder und feierte mich als eine Art Ötzi, dem sie ein museales Mausoleum errichtete. Aber krud realistisch gesehen: Verrottung und Gestank ist des Leibes Los. Es geht eben nicht, wie so schön im Brahmsschen Requiem besungen: „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras, und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen – das Gras ist verdorret und die Blume abgefallen.“ Von wegen: kein duftendes Heu, dienstbar noch dem lieben, wiederkäuenden Vieh – vielmehr faulender Festschmaus der Schmeißfliegen oder feisten Maden, die sich in meiner Bauchhöhle und Hirnschale mästen, oh, wie mich übelt! Also bleibt mir nichts, als aus diesem finsteren Stimmungstief wieder herauszukommen und höheren Mächten mein Schicksal zu überantworten. Sei’s drum: Arsch hoch, und hopp!

 

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Hinein, hinauf und hinunter Hinein ins Gebüsch. Ranken mit Dornen zerren wie Zähne an mir, wollen mich zurückhalten. Ich lecke Blutstropfen vom Handgelenk, reiße mich los von den Umarmungen mit Widerhaken, stolpere über Fallstricke, trampele alles nieder, schaffe mir Raum in dem Blätternest und setze mir ein anderes Nest auf: gewebt aus Streicherklängen.

Betörendes Klangfiligran. Ich tauche hinein mit dem Kopf in die andere Sphäre, die ich mir über die Ohren gestülpt habe: Kopfhörer, angeschlossen am Discman. In seinem Bauch rotiert eine silberne Scheibe, von der ein Laserstrahl ihre Runen abliest, die das Gerät in Töne umsetzt – ein technischer Vorleser, der Beethovens erstes Rasumowsky-Quartett intoniert, das ich so liebe, besonders das erste Motiv, eingeleitet vom Cello, begleitet von den zitternden Hüpfern seiner Klanggenossen. Die erste Geige übernimmt das Thema, führt es weiter, hin zum ersten gemeinsamen Schmettern: eine erklommene Anhöhe, Plattform, auf der die vier Instrumente Freudenstampfer aufführen. Dann werden sie leiser, verhaltener und gehen plötzlich in ein köstliches Motiv über, stürzen sich purzelbaumschlagend hinein. Erneuter Anlauf. Die beiden Violinen, euphorisch taumelnde Schmetterlinge, tanzen durch die Luft, hinauf zu ganz feinen, spitzen Tönen, wie mit Nadeln ins Himmelsblau geritzt: Kondensstreifen – sie schlingen sich in Kapriolen hinab, ineinander verwoben. Komplizierte Muster, flüchtig gezeichnet. Stickereien, bei der Schnelligkeit kaum zu verfolgen, nur die großen Melodienbögen: sie münden immer wieder in freudiges Erkennen, jeweils abgewandelt und neu, klar ziseliert – einfach perfekt. Das Ganze wird in der Schwebe gehalten von einer Spannung, die wie eine Sehne auf einen Bogen gespannt ist – auf die Streichinstrumente gezogen, zu einem einzigen Klangkörper verschmolzen. Dieses vibrierende Einheitsensemble schwingt wie die Saite eines harmonischen Kosmos: gehörter Himmel, schwebender Urzustand – ich bin das russische Thema, löse mich auf im finalen Tanz, drehe mich im Geschlinge widerhakenbewehrter Ranken, die mir Hemd, Hose und Haut zerreißen beim Taumeln und Strudeln zu Boden...

     Das Kreisen im Player hält noch an. Er schaltet sich aus mit einem leisen Geräusch, bremst die rotierende CD aus: psst – technische Lautsprache, ein Sirren, dann Klicken, und endgültig Schluß. Herber Pflanzengeruch, betäubender Blütenduft. Würzige Ausdünstungen zertretenen Blattwerks. Wo bin ich? Abgestürzt aus dem Opus 59, Nummer 1 – auch die Himmel sind numeriert.

 

 

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Erotischer Traum Lesend betrete ich im Geist mit Marcel den dunklen Vorraum des Hauses. Auf dem Weg zur Treppe bin ich selbst der Protagonist, der gegen einen Kleiderständer läuft in einer Verwirrung, die so groß ist, daß ich den auf einer Truhe sitzenden Hausdiener in seinem langen grauen Rock in der Dunkelheit für Madame Swann halte und mich vor ihm in Grußbezeigungen ergehe. Da kommt die wirkliche Dame des Hauses herbei und drückt mir lächelnd die Hand. Eigentlich bin ich nur wegen Gilberte hergekommen, denke ich gähnend, ermüdet von der anstrengenden Lektüre, und sinke zurück in den Sessel, während das Buch in meinem Schoß zuklappt, mit einem weichen Plop, das nichts weiter ist als der Einbruch des Zeppelins in mein Blickfeld: da schwebt er wie eine große Zigarre im Raum und schleift eine lange Schleppe nach, die außerhalb des Bildes irgendwo befestigt ist. Sie ähnelt einem Fischernetz. Menschen bewegen sich darin wie in einer Hängebrücke, die sich immer länger auseinanderzieht. Plötzlich gibt sie nach und hängt durch, als hätte sie zuviel Leine bekommen. Sie saust in die Tiefe, ein riesiger, auseinanderflatternder Schleier, aus dem die Menschen wie Flöhe herausgeschüttelt werden. Sie zappeln, stürzen hinab und stoßen Todesschreie aus, die sich aus der Ferne wie ein feines Zirpen anhören. Aus dem Off wird immer mehr Netzgarn ins Bild hineingerissen und weht wie ein gewaltiger Vorhang hinab. Verzweifelte klammern sich daran fest. Ein Ruck, und der Schleier weht losgerissen hernieder. Es war eine Explosion, wie ich erst jetzt bemerke. Die Riesenzigarre, an deren Zugleine auch Winzlinge strampeln, gerät in Brand: eine gewaltige Feuersbrunst, gleichsam das Ende der Welt, so unglaublich, plastisch und grauenerregend wie auf Bildern von Hieronymus Bosch. Ein auf mich herabprasselndes Inferno. Ich entkomme ihm durch ein kurzes Aufschrecken – und sacke wieder weg. Der Feuerball zieht sich noch länger, verwandelt sich in einen gigantischen Goldfisch, der rötlich fluoreszierend durch den dunklen Vorraum schwimmt. Rittlings auf ihm ich als Marcel, der eine zwischen seinen Schenkeln aufragende Angel schwingt und den Haken an der Schnur wie ein Cowboy sein Lasso um sich herumwirbelt. Er verfängt sich in Gilbertes wehendem Kleid, die, wie ich erkenne, vor ihm auf der Flucht gewesen ist, in Gestalt einer kleinen Rauchwolke. Gleichzeitig ist mir, als habe sich der Haken auch in mir verfangen: es zieht in meinen Eingeweiden, tut aber nicht weh. Vielmehr kitzelt es, und der Fisch, auf dem ich jetzt reite, bäumt sich auf – nein, etwas anderes: es niest so heftig, daß ich erwache. Da liegt noch die zugeklappte „Verlorene Zeit“, und darunter fühlt es sich unangenehm feucht an.

 

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Nächtliche Botschaft Auf dem Balkon. Oben die Sterne: Einstiche in blauschwarzen Karton, durch die der Himmel hereinstrahlt – ich in einer Schachtel wie früher mein Hamster aus dem Tierladen. Ein Transportflugzeug dröhnt darunter entlang. Blinkende Lichter an Rumpf, Flügeln und Heckflosse. Das Brummen wird leiser, erlischt mit dem Lauterwerden eines neuen – plötzlich vermischt mit einem anderen Geräusch: pss-pss. Flüstert dort ein Liebespaar?

     Schwarz in schwarze Gestalt, erahnbar lediglich durch rasche Bewegungen. Nicht mal das Gesicht schimmert wenn auch noch so schwach – als sei es maskiert. Wieder: pss-pss – jetzt kommt es vorn vom ersten Balkon des Seitenhauses. Rasches Gestikulieren einer wahrscheinlich behandschuhten Hand, erkennbar an einem wirbelnden Schimmern in ihr. Schreibt da ein Geist etwas in die Luft? Kaum sichtbarer Nebel sprüht auf und verschwindet. Nächster Balkon: pss-pss. Ein Auto kommt von rechts die Gasse hoch. Geradeaus gerichtete Scheinwerfer – biegen ein in die Kurve, erfassen eine flüchtende Gestalt: Graffiti läßt sie zurück. Abruptes Bremsen. Männer platzen aus dem stehenden Wagen, schauen sich fluchend um: nichts zu sehen – steigen ein und fahren weiter.

     Der Sprüher löst sich schwarz aus der helleren Schwärze, huscht unter meinem Balkon vorbei. „Pss-pss“, zische ich, und er ist mit einem Satz wieder verschwunden. Ein weiteres blinkendes Transportflugzeug dröhnt wie zur Antwort. Stille. Finsternis, bis auf die Löcher im Himmel – pss-pss: Zischen wie aus Düsen da oben.

 

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Appell an mich physisch Gestörten Seitdem ich die Zwischenräume meiner Zähne, diese Bakteriennester, mit zwischen beiden Händen zur Messerschärfe gespannter Zahnseide auskratze bzw. aussäge (ritsche ratsche), habe ich eine andere Beziehung zu meinem Gebiß, überhaupt zu meinem Mund: Eingang in mein Inneres, ausgestattet mit diesem kariesanfälligen Häckselapparat zum Zerkleinern, Zerkrachen und Zerdrücken von Speisen. Dahinter die sich wälzende Zunge: sie wendet und rührt den Brei, der Geschmacksaromen absondert, bevor er durch Schluckreflexe hinab befördert wird, in den Orkus des Magens. Säuren und Darmperistaltik. Kneten, Verdauen, Verwandeln in andere Substanzen die irgendwann am anderen Ende meines Rumpfes wieder austreten – oh Gott, davon bitte nichts genaueres: Gaumenfreuden sind salonfähig, Verdauungsprobleme aber nicht stubenrein.

     Also meine Zähne bzw. deren teilweiser Ersatz – gebleckt zum Säubern, erinnern sie an Bacon-Bilder: statt des Kopfes das messerbewehrte Maul eines Papstes auf seinem Thron, der wie ein Nachtstuhl aussieht. Mein Gebiß kontaktiere ich nur mit Reinigungsinstrumenten wie besagtem Faden oder mit Spülapparaturen und speziellen Schrubbern. Ähnlicher Ekel vor dem Anfassen einer anderen Tabustelle: Anus, Paria meines Leibes, der nur mit Papier, Brausestrahl, Lappen oder, früher im Krankheitsfall, mit einem kalten Fieberthermometer Berührbare – ist das nicht verrückt? Kultivierte Selbstentfremdung: hier beginnt die Verlogenheit, die sich zur allgemeinen Menschenverachtung auswächst, wenn ich nicht umlerne und den Abscheu vor der eigenen Intimsphäre überwinde – erster Schritt, auch auf andere zugehen zu können.

     Wie soll denn jemand, der sich selbst nicht mal riechen kann, erst andere tolerieren? Und dann dieses idiotische Unterscheiden: ein und dasselbe wird jeweils völlig unterschiedlich bewertet: Kleinkinderkacke ist drollig, aber Opas Inkontinenz eine Zumutung! Um es mal auf einen Reim zu kalauern: Geliebtenkuß ist Lustgenuß, aber mich erfaßt schon das Grausen, wenn andere schmausen, und blankes Entsetzen vor ihren Zahnersätzen. Doch Stuhlgang riecht hüben wie drüben – meiner nicht besser als deiner. Und jede erotische Pracht ist fleischgemacht: auch die Reine gehört zur Gattung der Schweine. Herrje, Urin ist nicht nasser als Kölnisch Wasser, du körperfeindlicher Hasser!

 

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Beim Zappen: Ein Dokumentarfilm zeigte einen jungen Braunbären, dem man Zähne und Klauen ausgerissen hatte, wie der Kommentator im Off erläuterte. Er wurde an einem durch Oberlippe und Nase gezogenen rostigen Draht in den Kreis johlender Schaulustiger gezogen und sträubte sich einerseits bebend, mit von Blut und Geifer triefendem Maul – andererseits gab er jaulend beim ruckartigen Zerren demütig nach. Am Pflock in der Mitte wurde er an einer langen Kette befestigt. Dann prügelte man zwei scharfgemachte, zähnefletschende Bullenterrier auf ihn los. Der Bär nahm Reißaus, wurde jedoch am Nasendraht zurückgerissen. Winselnd überkugelte er sich, während die Killerhunde über ihn herfielen. Staubwirbel, Gestrampel, Kläffen, Quieken – und Rot Rot Rot: barbarische Szene. Das Blut wurde schlammig schwarz im Sand, verklebte das Fell. Am Rande rollten Männer mit Turban schmutzige Geldlappen auseinander, die den Besitzer wechselten, während der Braunbär zuckte, in den sich die Hunde jeweils am anderen Ende verbissen hatten und eine Art Tauziehen mit seinem zerfleischten Körper veranstalteten. Voller Ekel und Haß auf die Menschen zappte ich weiter.

 

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Afrikanisches Requiem Frühstück mit übergestülptem Kopfhörer, diesmal der große von Sony: mit Schaumgummi gepolsterte und mit samtenem Stoff bespannte Muscheln – sie schmiegen sich angenehm um meine Schläfen und Ohren, wie liebevolle Hände.

     Drittes Klaviertrio von César Franck. Süchtig machende Motive: Quälgeister, die mich später verfolgen werden. Aber jetzt streichelt und wärmt die Musik mich von innen, wie der Milchkaffee. Strahlender Morgen. Goldenes Licht auf den Blättern der Linden, die balsamisch duften. Vorsicht: zuviel Idylle kann bei mir stimmungsmäßig ins Gegenteil umschlagen – schon spüre ich das Gewicht in die Tiefe!

     Zweiter Satz – seufz! Doch plötzlich stört mich der Gedanke: die drei Trios Opus 1 wurden dem belgischen König Leopold gewidmet – ich habe gerade Josef Conrads Erzählung „Herz der Finsternis gelesen“. Da wird die Kolonialpolitik jenes Königs aufs schlimmste angeprangert. Unersättliche Blutsauger, skrupellose Massenmörder werden vorgeführt. Ich gerate in Wut, reiße mir den Hörer von den Ohren, nehme die CD aus dem Player und schmeiße sie gegen die Wand: wie konntest du, César, diesem Pißmonarchen deine herrlichen Stücke widmen! Bitter schmecken sie jetzt meinen Empfindungen – wie der Milchkaffee meinem Gaumen, den er vorhin so sanft liebkost hat.

     Was kann die Musik für die Entartung der Menschen? Dennoch vermag ich es nicht zu trennen. Trotzdem hebe ich die CD wieder auf: ein kleiner Kratzer – für den Laserstrahl kein Problem.

     Schmerzensreiche Motive: Afrikanisches Requiem – ICH widme es den Opfern dessen, dem es zugeeignet wurde!

 

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Von der Fürchterlichkeit frühmorgendlichen Aufstehens Ip-ip-ip! Diese scharfen hellen Töne: mit ihren rücksichtslosen Spitzen stechen sie ins diffuse Gewebe des Schlafs, ermorden ihn – er zerplatzt, und ich bin preisgegeben einer Hundsmüdigkeit, einem Zerschlagenheitsgefühl, möchte mich verkriechen, zurück in den Schlummer, doch es reicht nur bis unter die Decke. Auch dorthin dringen die ipsenden Pfeile. Sie bombardieren mich im Rhythmus von Sekundenbruchteilen – Nähmaschinennadeln, angetrieben vom Schwungrad der Zeit, ihrem Büttel, dem Wecker, dessen Schnabel in mich hineinhackt, mich auflöst, das heißt, mein träumendes Alterego: eine Nebelmasse, schlagartig zerrissen, und ich schrecke auf und hinaus aus dem Nest, der kuscheligen Mulde, taste blindlings nach dem Mordinstrument, das immer noch sein Ip-ip-Stakkato ausstößt, aus vollen Rohren schießt, dieses Scheißding von einer akustischen Kalaschnikow!

     Zurückfallen. Mein Schutzschild, die Decke, hält das Weckerfeuer nicht ab. Ich wälze mich auf die Seite, schwinge mich mit einem Ruck auf die Bettkante: ein Trick, den mir meine chronischen Rückenschmerzen beigebracht haben. Jedenfalls ein instinktiver Reflex des Aufschwingens, wodurch ich möglichst schonend in die Senkrechte gelange: meine Beine dienen dabei als Schwungpendel, hoppla, und meine Füße schlüpfen somnambul sicher in die bereitstehenden Pantoffeln. Gegen den Boden gestemmt, taumele ich aus der Schlaftrunkenheit in die Wachregion, die allmählich Übergewicht bekommt – uh, habe ich Kopfschmerzen: gestern mal wieder zuviel gesoffen. Jetzt spüre ich auch den Blasendruck. Die Abschußrampe des Weckers hat sich in eine Schneidemaschine verwandelt, die mir das Hirn in Scheiben zersäbelt. Immer noch bin ich nicht in der Lage, dem Ding den Schädel einzuschlagen – wenn ich dich kriege! Da: zack, und ich fege es von seinem Scharfschützenposten – Stille, so wohltuend nach diesem Luftangriff aus dem stockfinsteren Nichts. Dafür beginnt nun das Tuckern im Dez, schwillt an zum Hämmern – wo habe ich bloß die Kopfschmerztabletten?

     Zwei platzen aus der Alufolie. Ich würge sie halbwegs herunter. Bitterer Gries im ausgedörrten Hals – steckengeblieben: Husten und Röcheln. Flucht nach vorn – Sturm auf das Bad. Ich erreiche den Wasserhahn, saufe, bin gerettet, nein – Toilette! Ich plumpse auf die Klobrille. Grelle Schmerzen im Kiefer: kommt von dem kalten Wasser an meinen entzündeten oder bloßliegenden Zahnnerven – wenigstens drängt es den Kopfschmerz zurück, den auch die beginnende Paracetamolwirkung betäubt. Paß doch auf – ich lange hinunter: fast wäre der Strahl zwischen Porzellanrand und Hartplastiksitz hindurchgeschossen.

     Ich stelle mir vor, in dieser Haltung eine Mater-Dolorosa-Figur abzugeben – na gut: vielleicht auch nur eine lächerliche Witzfigur. Obwohl mir nicht zum Lachen zumute ist: es ist ein Scherz mit m, also ein Schmerz – nicht nur in meiner rindsledernen Hirnrinde, sondern außerdem ein Säbelhauen quer durch meine Kreuzgegend, wo ich die heikle Stelle habe, diese Kandidatin für einen Bandscheibenvorfall: lenden- und flügellahm, fühle ich mich, als sei ich genau dort wie ein Insekt auf die Nadel gespießt, buchstäblich ans eigene Kreuz geschlagen. Jetzt eine falsche Bewegung, und es setzt Geißelhiebe – dabei ist es egal, wie ich mich rühre: alles wird wie die Erbsünde geahndet. Ich bin von vornherein verdammt mit meinem vermaledeiten Rücken: Gnade! Doch Gott straft mich mit seinen Donnerkeilen, nagelt mich fest in eine gekrümmte, stocksteife Haltung – oder ist es die stechende Forke des Teufels? Egal: Kopf- und Zahnschmerzen sind dagegen ein Vorspiel der Hölle. Wie überlebe ich bloß die Waschprozedur? Nicht dran denken – nur an den Kaffee: auf, und die Maschine an!

 

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Schnee mit Pferdefüßen Quietschende Haustür. Eine über Nacht ins Weiße verwandelte Szene. Alles ist mit Schnee überpudert, frisch, unberührt. Die Straße: weißer, vor mir ausgebreiteter Teppich, den ich nur zögernd betrete. Die Sohlen meiner Schuhe hinterlassen haargenaue Abdrücke, ihr spiegelverkehrtes Profil. Jeder Schritt erzeugt einen gedämpften Knall. Der Schnee fühlt sich unter meinem Gewicht wie eingedrücktes Pulver an: dumpfes Knirschen einer nassen Konsistenz in Gestalt trockener Watte – paradox. Jedes Detail hat einen weißen Nerz übergeworfen bekommen. Oder eine Bettdecke, gar ein Plumeau. Da, die weiße Haube auf der Mauer. Sogar die Seitenspiegel der geparkten Autos scheinen in Pelzmützen gemummelt zu sein.

     Auf der Neusserstraße ist die schöne weiße Fläche schon häßlich verschmutzt: Frühverkehr. Graue Spritzer schießen zischend unter den Reifen weg. Glänzend schwarze Löcher bleiben zurück. Entzauberung des Märchenhaften. Herunterklatschen tauender Klumpen von Schaufenstersimsen. Tröpfeln von der Dachrinne auf meinen Kopf: fies! Riesige Kipplaster donnern vorbei, brüllende Kolosse mit einer grünen Plastikblende: Mützenschirm über der Windschutzscheibe, heruntergeklappt – damit der Fahrer im Führerhaus nicht vom grellen Laternenlicht geblendet wird? Straßenbahnschienen: schwarze Linien im noch unberührten Schneestreifen zwischen den Fahrbahnen.

     „In China haben die Damenfüße viel Ähnlichkeit mit Pferdefüßen“, lese ich im mitgenommenen Hebbel, stampfe mit meinen Eisklumpen auf und denke: meine hier auch.

 

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Eine andere Welt  Den Kopfhörer aufsetzen und in eine andere Welt schlüpfen. Klanglabyrinth. Notentropfsteinhöhle. Tonkathedrale. Mit den Ohren sehen. Klänge verwandeln sich in Farben, Girlanden, Muster, Figuren. Gewebe mit Ornamenten, fließend, lebendig. Räumlicher Klangstrom, grenzenlos. Im Raumschiff durch ein Universum. Glitzernde Planeten in harmonischer Einheit, jeder Stern eine Note: Sphärenmusik – schwerelos, unkörperlich, Materie in Farbenspektren aufgelöst. Klangstimmenwellen. Streichersubstanz. Violinenlicht, Violadämmer, fliegender Wechsel, brausender Musiksturm, Geschwindigkeitsrausch im Sessel. Hüpftriller, Kratzgalopp, flirrendes Buntfiligran. Streicherrelief, gitterartig durchbrochen. Ziselierte Klangmuster auf sattem Samthintergrund. Vier Stimmen verbinden sich zu einem Akkord, stehen auf der Kippe, verlieren die Balance, stürzen, zerscherben disharmonisch, fügen sich wieder zusammen: neue Figuren lösen sich in hellgelben Geigenschleifen auf, die sich zu ockerfarbenen Bratschentönen eindunkeln. Sinfoniendschungel öffnet sich zur Lichtung: Blumenwiese, farbenfroh, silbrige Kohlweißlingflöten schaukeln von violetten zu roten zu blauen Blütenkelchen. Goldener Hornsonnenaufgang, umschleiert von rosa Holzbläserwolken. Bewegung im braunbrummenden Streicherwald: auffrischender Wind beschleunigt den Rhythmus, verwandelt die lieblichen Töne in eine schroffe Landschaft. Bizarres Felsengeklüft, darüber dramatisches Posaunengellen. Himmel in Flammen, Blitz, Paukendonner. Dunkler Felsgrund bricht auf, schleudert Klangmassen hoch. Urnebeltosen. Lärmexplosion – gemildert zu einem melodiösen Abendrot. Im Hintergrund bläuliche Gebirgsketten – ersterbend: klack, schaltet sich der Apparat aus.

 

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Philosophieren am Morgen  Das Erwachen, denkt er und schlägt die Decke zurück, ist wie das Bewußtwerden einer Absurdität. Überhaupt, denkt er weiter und schlüpft fröstelnd in den Bademantel, ist das Leben ein Traum. Vielleicht, setzt er neu zu denken an und sucht nach den Pantoffeln, gehöre ich einer ganz anderen Sphäre an und bin ein eingeschlafener Geist, der sich in diesem virtuellen Zimmer wiederfindet und im Begriff ist, auf Toilette zu schlurfen. Ich träume die Realität, sagt er sich, zieht die Hose runter und rafft den Bademantel, die in Wirklichkeit unwirklich ist. Er setzt sich auf die Brille und denkt, daß er träumt, wie er sich jetzt erleichtert. Eines Tages, denkt er und zieht ab, erwache ich in das hinein, was mir von hier aus als Tod erscheint, während ich eigentlich nur in meinen ursprünglichen Zustand zurückkehre, eine Geborgenheit, für die es Metaphern wie Paradies oder Seligkeit gibt. Dort reibe ich mir die Augen, denkt er und zieht sich aus, falls ich als jenseitiges Wesen überhaupt Augen habe, und schüttele über meinen seltsamen Lebenstraum den Kopf, vorausgesetzt, ich habe drüben noch einen und schwebe nicht etwa als Geistwolke durch eine Art vierte Dimension. Philosophieren, sagt er laut, um das Bibbern beim Waschen zu unterdrücken, ist nichts weiter als der immer wieder mißlingende Versuch, aufzuwachen, in was auch immer hinein. Dieser Gedanke kommt ihm so bedeutend vor, daß sein Denken im Verlauf der weiteren Körperpflege, von sich selbst beeindruckt, sozusagen schweigt. Der Traum ist ein Zerrspiegel der Wirklichkeit, denkt er in einem neuen Anlauf und nimmt Butter und Marmelade aus dem Kühlschrank. Meine Existenz ist eine Einbildung, sagt er laut, um die geballte Stille zu durchbrechen, die in einer Übereinbildung steckt, die wiederum in einer Überübereinbildung steckt, wie eine chinesische Puppe in einer chinesischen Puppe in einer weiteren chinesischen Puppe. Gehe ich vom Tod als dem einzigen Wahrheitsanhaltspunkt aus, denkt er und gießt kochendes Wasser über den Kaffee im Filter, wobei ihm das Aroma wie ein Odeur des Himmelsreichs in die nur halluzinierte Nase steigt, ist es doch töricht, daß ich die lediglich phantasierten Tatsachen so wichtig nehme. Ich messe diesem Alptraum eine viel zu große Bedeutung bei, denkt er und tut Brot in den Toaster, wie wenn ich einen Kinofilm sehe und angesichts des Schicksals der Leinwandhelden leide, als ob mir ihr Unglück persönlich zustieße. Zuletzt, denkt er selbstironisch und nimmt die Röstbrotscheiben aus dem Toaster, werde ich als Leiche aus dem Film getragen, worauf ich selber den Kinosaal als eingebildeter Lebender verlasse. Beim Essen konzentriert er sich mehr auf das, was er schmeckt, und denkt folglich weniger. Alles ist doch so unglaubwürdig, fängt er kauend und schlürfend wieder zu denken an, und verflüchtigt sich ins Nichts, sobald es gewesen ist. Das Sein, denkt er und stochert sich Speisereste aus den Zahnlücken, ist im Grunde ein stets sich auflösender und neu formierender Rauch, der nach jeder Gestaltwerdung in einen Erinnerungseindruck zerfließt und gleichzeitig eine weitere Chimäre bildet. Dieser Gedanke packt ihn für einen Moment mit solcher Gewalt, daß er sich nicht zu rühren wagt, aus Angst, er würde auseinander wabern. Unwillkürlich spreizt er den kleinen Finger vom Tassenhenkel ab und faßt neuen Mut, als der nicht in den befürchteten Qualm aufsteigt. Die Zeit, denkt er, steht tollkühn auf und stellt Marmelade und Butter zurück in den Kühlschrank, ist der ewig fließende Strom einer ununterbrochenen Gaukelei. Und das Gehirn, sagt er laut, um sich auch akustisch zu beweisen, daß er nicht als Gespenst durchs Zimmer spukt, ist ein Geistwesenkerker. Überhaupt, sagt er nun übermütig und stellt das Fenster auf Kippe, ist das Leben eine Sträflingsinsel, auf der die Geistwesen Jenseitsverbrechen zu büßen haben. Strafen in Form eines Juckens, denkt er und kratzt sich, nachdem ich in einen Gefängniskörper und ein vergittertes Gehirn gesperrt worden bin. Zeit und Raum, sagt er laut zu einem nicht anwesenden Wesen und breitet die Arme auseinander, sind meine Zwangsjacke in einem schlechten Scherz auf meine Kosten. Mir bleibt, brummt er und ballt die Fäuste, nichts anderes übrig, als auf meinen Tod zu warten, damit ich wieder aufwache und erlöst bin von diesem Wahn. Aber welch ein endloser Alpdruck trennt mich noch vom Sterben, denkt er panisch und kneift und ohrfeigt sich, ohne daß er in den ersehnten Jenseitszustand auffährt oder hineinplumpst, so daß ich, denkt er seufzend weiter, meine lebenslängliche Haft bis zum bitteren Ende abreißen muß – es sei denn, ich entlasse mich vorzeitig, schießt es ihm durch den Kopf, als er das abgewaschene Besteck zurück in die Schublade legt, aus der ihn ein spitzes Steakmesser mit gezackten Piranhazähnchen anblitzt.

 

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Explosion in Zeitlupe Zweige in einer weißen Porzellanvase auf der Fensterbank. Glatte braune Äste mit zarten Abzweigungen, an deren Spitzen die Knospen pilzartig hochragen: ovale Längsformen, einer Bombe ähnlich – tatsächlich geschieht mit ihnen eine stille Explosion, ganz langsam. Der rautenförmige Mantel schwillt an, wird dick und strotzend. Allmählich platzt er auseinander. Die feine, fallschirmartig zusammengelegte Blattspitze schiebt sich aus dem tulpenartig aufspringenden Knospenkokon: erinnert an schlüpfende Schmetterlinge – genau so schiebt sich das Blatt hervor, zartgrün, durchscheinend, Rippen und Rippchen plastisch sichtbar im noch knautschigen Grünstoff, der sich nun entfaltet, aufspannt, durch die Rippen auseinandergezogen wie der Stoff eines geöffneten Regenschirms vom Gestänge. Mehrere Blätter schlüpfen gleichzeitig aus einer Knospe, wie Zwillingsküken aus einem Ei, und streben fächerförmig auseinander. Sie ähneln einer aufblühenden Blume, deren Blütenblätter kreisförmig auseinandergehen. Sie bilden zuerst ein gefälteltes Kissen bzw. eine krause Dolde, dem Bommel einer Pudelmütze vergleichbar. Jedes der aus der Knospe sich drängende Blättchen spreizt sich in eine andere Richtung, und in ihrer Mitte erscheinen noch weitere kleinere Blättchen, die von ihren äußeren, schon kräftigeren Geschwistern wie von faltenwerfenden Mänteln umschlossen waren. Lautloses Zerplatzen einer Knospengranate, blütenartige Entfaltung eines Blätterstraußes: optischer Chor, dessen grüner Klang sich im Raum ausbreitet, strämmt, dem Licht entgegen. Grüßend erhobene Pflanzenhände mit Schwimmhäuten zwischen den Fingern – fünf gespreizte Zacken eines Ahornblatts: jedes ein im Luftzug winkender Frühlingsbote.

 

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Schneedenkmal Endhaltestelle Königsforst. Da steht, wie aus feinstem Marmor modelliert, ein riesiges männliches Geschlecht: zwei nebeneinanderliegende Schneekugeln, von einer schräggestellten Säule aus vereistem Schnee überragt – wie haben die das bloß hingekriegt? Oben wird der Eichelansatz durch eine Rinne angedeutet. Die Blicke der mit mir ausgestiegenen Leute zucken hin und wieder weg, als sei ein Exhibitionist mit aufgerissenem Mantel vor sie hingetreten. Schüler steigen in die zur Stadt zurückfahrende Bahn, lachend: haben sie sich diesen Spaß erlaubt? Ein älterer Mann, die Hände in die Hüften gestemmt, baut sich davor auf, schaut hoch und schüttelt den Kopf. Ich gehe an ihm vorbei, spüre bei jedem Schritt das weiche Knirschen unter den Sohlen und dringe in den weißverschneiten Wald ein. Plötzlich traumhaft niederschwebende Schneeflocken – ein Winterzauber. Ich drehe mich noch einmal um: das Denkmal ist verschwunden – der Mann trampelt auf der Stelle.

 

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Bei Sauwetter in die Stadt Regen schauert mir hände- und böenweise ins Gesicht, klumpt in matschige Schneeflocken über. Unwillig mumme ich mich in meinen Parker, biete dem heulend naßkalten Windgestöber die kapuzenbewehrte Stirn. Quapschend bahnen sich meine lehmbespritzten Schuhe den Weg zwischen Pfützen mit Regentropfenkreiseln hindurch. Grämlich bleicher Himmel. Fröstelndfeuchte Häuser, januargrau, mit mürrisch die Eingänge verwehrenden Türen, die ein regenverzogenes Holzgesicht machen oder aus tränenden Glasaugen blinzeln. Geballte Wolkenfäuste werden südwärts geschleudert. Schwach lugt die Sonne durch Nebelgrau, ein trübe funzelndes Monokel hinter niederpeitschender Graupelschraffur. Schwarz fährt ein Baumgeäst in die aufgebrachte Luft, fleht mit ringenden, biegsamen Zweigfingern den grollenden Wettergott um Erbarmen an. Der antwortet mit Hagelschrotsalven, die bös ins haarig zerflatterte, wirr geduckte Astgeknöchel einschlagen, das sich schüttelt wie am Schlafittchen gepackt unter seiner Sturmstandpauke. Plötzliche Windstille: prompt reckt sich der Baum, ein frecher Prometheus, zu seiner stolzen Größe auf – die Windzuchtpeitschen haben ihm jedes Zweigrückgrat nur gestärkt und biegsam gemacht. Grell flackert eine defekte Neonreklame. Scheinwerferkarawanen schlängeln sich durch die Nieseltrübnis. Hui, klatscht mir eine Regenohrfeige, lauernd hinter der triefenden Hausecke, entgegen. Hämisch pieksen mir, eine stichelnde Nachhut, Schauernadeln ins abwehrend zusammengezogene Gesicht: Gulliver in Liliput, den nur die Brillengläser vor den Pfeilen der Zwerge schützen. Wie es mich schuddert im klatschnassen Parkagelumpe! Gegen das Sauwetter schirmgewappnete Frauen, mützenbehelmte Männer, anorakgepanzerte Kinder. Schutz suchen unter einer schwer durchhängenden Markise über einem optimistisch leuchtenden Schaufenster. Abgasdampfblasende Autokolonnen. Lichtschimmernde Straßenbahngleise mit teilweise abgesoffenen Schienen in der spritzenden Sintflut. Ein ratternder Lindwurm auf Rädern verdrängt die Wassermassen aus den stählernen Asphaltrillen, hält quietschend und reißt sich zischend Türöffnungen in die reklamebunten Seiten, aus denen es erst herausquillt und in die es dann hektisch hineindrängelt. Muffigfeuchte Luft. Eingekeilt in Armhindernissen. Verstopfter Straßenbahndarm, in dem von hinten immer noch Druck von weiteren Hereingequetschten ausgeübt wird. Einhändig an Schlaufen baumelnde Leiber, klamm verpackt. Eine tütenbepackte Riesin verbarrikadiert einen freien Platz: wie ihre Schenkelkolosse überwinden? Ich versuch es erst gar nicht und gucke bloß finster in ihre stoische Visage. Geschaukelt im Massenschunkeln beim Anfahren und Bremsen, bin ich wütend über mich selber: was muß ich auch ausgerechnet heute in die Stadt?

 

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Gedanken in der Straßenbahn und Mädchen in der Luft Herumkramen in der Tasche und den eselsohrigen Nietzsche herausangeln. Mich luftholend dahinter klemmen. Ich klammere mich an die sinnsperrigen Zeilen, bohre mich hinein und ächze im stillen. Den Inhalt des Aphorismus bekomme ich beim ersten Durchlesen nur flüchtig an einem Zipfel zu fassen, den ich zu mir heranziehe, während ich mit angestrengtem Hirn in seinen Sinn eintauche, mich wortweise vorwärtsrobbe. Dann kraxele ich Steinritze um Steinritze die Felswand des erratischen Textes hinauf. Fast verstehe ich ihn, spüre schon das erlösende Aha – als die Bahn ruckartig hält, und ich stürze aus dem Zusammenhang, blicke ärgerlich auf. Ich sammle mich wieder, nehme erneut Anlauf, vibrierend vor Konzentration, hartnäckig mit Verstandeszähnen in den schwierigen Inhalt verbissen, an dem ich mit Vorstellungsklauen festhalte, und ich knacke ihn wie ein Eichhörnchen die Haselnuß, piddele den Gedankenkern aus den hartspitzigen Grammatikschalen heraus und verschlinge ihn mit nimmersattem Kopf. Überanstrengt, aber zufrieden stecke ich das Fledderbuch zurück in die Tasche, wurstele mich durch den statistenverstellten Gang zur aufzischenden Tür, schubse mich durch die Leibergasse nach draußen ins winterlich ungemütliche Freie und kniepe kurzsichtig. Schneefederngestöber: Ballettmädchen in hauchzarten Petticoats, herabsinkend auf den schmutznassen Asphalt und sogleich aufgelöst wie Wunschphantasien angesichts dieser graukalten Realität. Was habe ich vorhin noch gelesen – Nietzsches Gedanken, aufgetaut und zu nichts zerronnen wie die immerzu nachfallenden Petticoats oder Flockenfallschirme heruntergetrudelter Phantasiemädchen.

 

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Konfrontation Sind wir nicht jeder ein Don Quichotte? Die Nichtübereinstimmung zwischen Phantasie und Realität des edlen Ritters – wer hält sich selber nicht für edel und ritterlich? Zwangsläufig entstehen daraus Konflikte, denn schon bei der ersten menschlichen Begegnung stoßen wir auf eine ganz andere Phantasie, die von ihrem Eigentümer ebenso für wahr gehalten wird. Eine Realität – zahllose Einbildungen: Stoff für Burlesken! Tatsachen, im Zerrspiegel persönlicher Vorstellungen erblickt. Da kann selbst das Flachland zur alpinen Umgebung werden. Früher glaubte ich, ein Alp und die Alpen hätten die gleiche etymologische Wurzel – ich brachte das mit meinen Abstürzen von geträumten Steilwänden in Zusammenhang. Und reagieren wir nicht alle wie Ritter Papphelm statt nach objektiven nach subjektiven Kriterien? Zwar hat seine Umwelt eigene Gesetzmäßigkeiten, aber er schert sich nicht darum, sondern beurteilt sie nach der von ihm geglaubten Wirklichkeit – kein Wunder, wenn er sich bei der Auseinandersetzung mit ihr Prellungen holt. Aber selbst die werden uminterpretiert, Niederlagen zu heldenmütig bestandenen Abenteuern hochstilisiert: so ist er de facto ein armer Spinner, in Gedanken aber Superman – kein Windmühlenflügel reißt ihn in die Höhe, sondern seine eigene Energie. Wird er auch in Wirklichkeit gezüchtigt, meint er doch, selbst die Peitsche zu schwingen. Don Quichotte ist nicht nur eine traurige, sondern auch eine gefährliche Gestalt, ein Größenwahnsinniger, der, ehe er bruchlandet, manches in Scherben gehen läßt. Dem phantastischen Hochmut lassen sich keine praktischen Zügel anlegen – eher stirbt der Irre tragikomisch an seinem Wahn, als daß er aus ihm erwacht. Die Welt ist ihm heroische Kulisse, und der Klepper Rosinante ein edles Roß, dem er, sein Herr und Meister, ebenso die Sporen gibt, wie er feindlichen Horden seinen Willen aufzwingt, mögen sie ihn auch noch so durchprügeln. Und die schrägste weibliche Karikatur ist seine Dulcinea, der er seine verrücktesten Verstiegenheiten widmet, unabhängig davon, ob sie die überhaupt annimmt – ein erstaunlicher Kampf zwischen Dichtung und Wahrheit, aussichtslos erfolgreich!

 

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Vorzeit Angemeldete Besuche peinigen mich mehr als überfallartige. Besonders solche von Freunden aus der Vergangenheit irritieren mich. Wenn wir uns stark verwandeln, sagt Nietzsche, werden unsere Freunde, die sich nicht verwandelt haben, zu Gespenstern unserer eigenen Vergangenheit: ihre Stimme tönt schattenhaft schauerlich zu uns her, als ob wir uns selber hörten – jünger, härter, ungereifter. Ich überspringe riesige Lebensabschnitte, in denen seelische Umwälzungen stattgefunden haben, mit einem Satz, wenn der alte Bekannte vor mir steht, und habe das absurde Gefühl, zeitlich zurückversetzt worden zu sein. Verwandelt von heute auf gestern. Dummerweise bemühe ich mich instinktiv, dem Bild des einstigen Freundes zu entsprechen – vielmehr meiner Vorstellung von dem, was ich für seine Sicht auf mich halte. Als sei ich eine Schlange, die in ihre Haut, die sie längst abgestreift hat, zurück will – als zwängte ich mich in die zu eng gewordenen Kleider meiner Jugend. Also: gedeckter Tisch, es klingelt, ich schrecke hoch, drücke den Summer – Schritte im Treppenhaus. Ein bekannter Fremder taucht auf. Schock, lächelnd überspielt. Das absurde Theater kommt in Gang, verselbständigt sich, bewegt sich wie ein mechanisches Spielzeug aus meiner Kindheit, in die ich mich so irreal gebeamt fühle. Gleichzeitig blicke ich hinter die Kulisse, durchschaue die Konversation als etwas Vorgetäuschtes, das ich überzeugend darstelle, mit der Aufrichtigkeit eines Schauspielers im Schwebezustand seiner Identität mit der Rolle, die er nur spielt und doch wirklich verkörpert. Frühere Verhaltensmuster tauchen aus der Versenkung auf. Alles verläuft traumwandlerisch sicher. Das Jetzt hat sich mit dem Damals fugenlos verbunden. Ich bin wieder der lärmende, anmaßende Pennäler und mir gleichzeitig peinlich, was ich aber verdränge. Wir im schwankenden Kahn auf dem Gesprächsfluß einst geläufiger Themen: eingelaufen und verfilzt wie zu heiß gewaschen. Glattzüngiges Umrudern gefährlicher Untiefen: Sex, Moral, Politik – früher steuerten wir gerade solche Vertraulichkeiten an, die wir nun tunlichst meiden. Bloß nicht anstoßen. Alte Kamellen als Füllsel in Gesprächspausen: Gerede wie Sägemehl in der erschlaffenden Konversation. Die verschleiernde Wirkung alkoholischer Getränke rundet Ecken ab, mildert hervorstechende Zweifel. Der Abschied, eine große Erleichterung darüber, den guten Eindruck voneinander aufrechterhalten zu haben, wenn auch mühsam. Der Händedruck ist umso herzlicher, als wir mehr froh über unser Auseinandergehen als darüber sind, uns wiedergesehen zu haben: geschafft, und die Ernüchterung setzt wie beim Verlassen des Kinos ein, in dem wir einen bewegenden Film über unsere eigene Unwirklichkeit gesehen haben.

 

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Frühlingsgeruch Die Tage werden länger. Die Vögel fangen an zu singen. Es liegt ein Geruch in der Luft, der mich an Frühling erinnert. Die Sinne nehmen etwas wahr und lösen eine bekannte Stimmung in mir aus. Wecken einen vergessenen Eindruck, als falle Licht auf einen Gegenstand im Dunkeln. Als öffne der Geruch wie durch Zaubermacht eine verborgene Tür in meinem Gedächtnis. Jeder Augenblick schwimmt auf dem Meer des Lebens und wird im Nu zu einer Erinnerung. Die Existenz: zahllose erstarrte Momente, die sich sofort wieder auflösen, worauf der nächste gerinnt, zur Materie wird, wie Wasser zu Eis friert: hart, fest, greifbar, und dann zerfließt er wieder, zerrinnt im flüssigen Zustand durch die Finger des Gedächtnisses. Nur einmal festigt sich ein Augenblick und löst sich dann unwiederbringlich auf. Er existiert nur noch als Voraussetzung für die folgenden und versinkt im Vagen, bleibt aber gegenwärtig.

     So auch der Frühlingsgeruch, der vergangene Lenze heraufbeschwört, sie zu verstofflichen scheint. Simsalabim, entstehen sie wie aus dem Nichts, als sei die Wirkung die Ursache. Die im Winter eingefrorene Energie scheint sich gewaltsam zu entladen. Eine ungeheure Potenz sprengt die frosterstarrte, kahle Erde. Aufgestaute Kräfte treiben das Vitale, das nur geschlummert hat, erneut hervor. Nun geschieht das jährlich sich wiederholende Wunder. Frühlingsgeruch: Götterbote, Frohe Botschaft des Jahres. Jeder Floh spürt es in seinen Gliedern und Organen. Jede Kirschblüte beglaubigt es bis ins Allerfeinste, offenbart einen prophetischen Zauber.

     Können wir auch etwas so Vollkommenes schaffen? Eine so müßige Frage wie die, ob eine Sinfonie den Gesang einer Amsel aufwiegt. Für das Weibchen zählt nur das Tirilieren des Männchen. Den Eber erregt der Geruch einer Sau, der uns abstößt. Der Spinnerich läßt sich oben von seiner Partnerin fressen, während er sie unten noch begattet – schlimm würde uns das erscheinen.

     Vogelgezwitscher. Plötzlich kommt es mir unpoetisch vor. Woher kam die Euphorie von vorhin? Trüber Nieselregen, der das Dach drüben glänzend lackiert. Motorengeräusch, leise, noch weit entfernt: Müllabfuhr – löst deprimierende Assoziationen aus. Mir ist, als müßte ich vor Erschöpfung auseinanderbrechen, wenn ich mich jetzt bewege. Mich wundert, wie die Vögel die Kraft aufbringen, so lauthals zu schmettern ins Feuchtschwere, geschwängert von Sagen transportierenden Düften. Das Tschilpen der Spatzen. Bei jedem Schrei muß ihr kleiner, gefiederter Leib vor Anstrengung vibrieren, gar bersten, scheint mir. Ich zittere schon erschöpft bei der Vorstellung, nur aufstehen zu müssen. Auch der Sekundenzeiger strebt so emsig vorwärts, mit tickenden Schritten, die meine Nerven akupunktieren.

 

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Nach Draußen Trübes Wetter. Abgetaute Fensterscheiben. Hellgrauer Reif überzieht die nackten Lindenzweige. Sie ragen gespensterhaft wie ihr eigener Schatten im dichten Nebel auf. Die Luft draußen, rauchgeschwängert. Atemdampf. Abgasgesättigter Kältedunst. Scheißjahreszeit. Kurzes graues Tageslicht. Smogalarm. Schneestürme. Defekte Gasleitungen, explodierte Häuser. Überschwemmungen. Vorübergehendes Föhnwetter: es bricht nicht das Rückgrat des Winters – der erstarrt wieder umso eisiger. Winterschlaf der Tiere. Schlummernde Feldmaus im unterirdischen Nest. In Todesstarre versunkene Frösche auf dem Teichgrund. Beneidenswert. Wenigstens ein in wärmere Länder geflogener Vogel sein.

     Frostige, qualmverpestete Nebelsuppe, Spiegelbild meiner Gemütsverfassung. Autobahn, stellenweise mit Rauhreif überzogen. Autos ohne Abblendlicht. Beschlagene Scheiben im Wageninneren. Verkrampfte Hände am Lenker. Beinaheunfall beim Wechseln auf die Überholspur. Schmutziggrauer Ford, getarnt im schmutziggrauen Tageslicht. Blenden im Rückspiegel. Rechtsüberholer drängt mich zurück auf die Außenspur. Arschloch, verfluchtes. Wut.

 

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Zur Spritze Fertig zum Ausgang. Nebelsmogluft legt sich schwer auf meine Lungen. Beklommen wegen der begrenzten Sicht und der Atemknappheit. Juckende Triefaugen. Schneidende Kälte, ich darin erbärmlich zusammengeschrumpft. Auf dem Trottoir festgefrorene Hundescheiße. Vom streusalzgesättigten Schneematsch dreckstarrende Autos: feindlich. Grelles Weiß der Schneereste auf schwarzgrauen Dächern. Kahlstarre Vegetation. In Eiszapfen eingefrorene, gelblich verdorrte Grashalme. Verharschte Schneedecke: durchlöchertes Leichentuch auf erfrorenem Rasen. Vom Rodeln abgeschabte Erdschrunden im Nippeser Tälchen.

     Geriffelte Glastür: knarrend – schepperndes Krachen ins Schloß. Düsteres Zwielicht im hohen, kahlen Hausflurschacht. Knopfdruck. Aufzug-kommt-Schrift leuchtet rot – nur kommt der Aufzug nicht. Je zwei Stufen auf einmal. Es stinkt. Atemnot. Schwitzen. Dritter Stock. Geriffelte Glastür: Knarren – Scheppern.

     Orangefarbene Theke: häßlich. Dahinter zwei Mädchen: hübsch – keine Zeit. Rechts: Blick durch die offene Tür ins überfüllte Wartezimmer – Fluchtinstinkt, mühsam niedergehalten.

     Antiallergiespritze, ich. Das weißbekittelte Mädchen scheint sich ein Lächeln aufzusetzen – ist aber nur eine Attrappe: Freundlichkeitsmaske, die Genervtsein ausdünstet. Schwarzer Plastikpolstersitz auf silbernem Stahlrohr. Behandlungszimmer, riecht nach Krankenhaus: neurotisches Erstickungsgefühl. Dünner Nacktarm unter hochgeschobenem Parka-, Pullover-, Hemdärmel. Praxisgeräusche. Schnarrstimme aus der Sprechanlage. Gehuste. Murmeln. Schrammen. Surren von Apparaten. Rappeln und Klirren. Cremefarbener Blechschrank, medizinische Geräte hinter Glas. Graues Linoleum.

Endlich huscht der Arzt herein. Schmächtig, Schäuzer, goldgefaßte Brille, hastig. Formelgruß. Aufklappen meiner Akte. Frage nach meinem Befinden. Meine Klage über häufige Niesanfälle, während er die Verpackung der sterilen Spritze aufreißt. Kalter Sprüher auf meinem Oberarm. Gelbliche Lösung, subcutan. Hauthügel. Tupfer, drücken. Rezept ausstellen, schnell schnell: die Praxis platzt aus allen Nähten.

Weißbekittelte Mädchen: Lichtblick, wäre das Latexlächeln nicht. Menschenverstopfter Gang. Geriffelte Glastür. Aufzug-kommt-Schrift neben einem Aufzug, der nicht kommt. Hallendes Treppenhaus, düster – Katzenpisse. Geriffelte Eingangstür. Knarren, Scheppern, das vom Straßenlärm verschluckt wird. Heftiger Niesanfall – Trab zur Apotheke. Luft!

 

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