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Wenn

Auf der Fensterbank steht die hölzerne Figur eines Mädchens: ebenholzschwarz, in kniender Haltung. Die Beine unter dem Schurz sind zu einem Dreieck gespitzt, auf dem sie vorn mit dem Sockel verbunden ist: aus dem scheint sie hervorgegangen zu sein, aus dem steinharten Holzstück eines afrikanischen Baums herausgeschnitzt, wie gemeißelt aus einem Marmorblock, geformt von der Hand eines Künstlers, der toter Materie seine Inspiration eingehaucht hat.

Sie wurde verschleppt aus ihrer heimatlichen Gegend und über Handelsumwege hierher verschlagen. Nun kniet sie schon seit Jahren vor meinem Fenster, stolz aufgerichtet, hinten auf den Fersen ihrer gespitzten Barfüße hockend, das Rückgrat gerade durchgedrückt und den länglichen Kopf auf dem kräftigen Hals leicht vorgeneigt: so anmutig wie eine Sylphe. Die Arme hat sie bis hinab zu den Ellbogen an ihre Seiten gedrückt, von wo sie sich nach vorn zur Mitte biegen, und ihre langfingrigen Hände ruhen auf den Oberschenkeln.

Die ganze Figur wirkt in sich versunken, abgehoben in stiller Meditation von der lärmenden Welt. Einmal spannte sich ein staubflusenbehafteter Spinnwebfaden von ihrer Braue über die runde Wange zur Brust hinab und vibrierte bei jedem Windzug durch die Fensterritzen, wobei mir war, als krabble eine Spinne über meine Haut. Jedenfalls spürte ich einen Kitzel, und meine Gesichtsmuskeln zuckten, während ihre Züge stoisch unbeweglich blieben.

Wische ich meine kleine Fensternischengöttin nicht regelmäßig ab, erscheint sie schnell wie ergraut: Staub schneit in leisen Flocken wie schmutziger Schnee auf ihr schwarzglänzendes Haupt hernieder, das gefurcht ist von ihren Haarsträhnen, die zu feinen Zöpfen geflochten sind und eng an dem schmalen Schädel anliegen, hinter den Ohren mit dem langen Gehänge zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der in ihren Rücken übergeht, ist sie doch aus einem Stück gefertigt, durchgehend wie aus einem Guß geschaffen.

Mit dieser dreißig Zentimeter hohen Figur halte ich oft Zwiesprache: ich habe keine innigere Vertraute und wünsche mir auch keine andere. Ich habe ihr sogar meine Liebe gestanden, wobei das Spinnweb an ihrer Wange zitterte und ich am ganzen Körper bebte. Das hielt ich für ein Omen, und tatsächlich stand meine Fensternischengöttin am nächsten Tag aus Fleisch und Blut in Lebensgröße vor mir: die neue Praktikantin in dem Heim, wo ich als Hilfspfleger arbeite – Jasmin, oh Zierde dieses Hauses, eine duftende Blüte, schlank wie ein Ölbaumzweig und ebenholzschwarz!

Ich mußte sie in der Küche einarbeiten: unsere Küchenmamsell hatte einen Bandscheibenvorfall, und wir sprangen für sie ein. Ich schwebte neben Jasmin wie auf Wolken. Alles an ihr war Grazie, ihre Stimme lauterer Wohlklang, ihr Blick Opiumsüße und ihr Lächeln ein Paradies mit schneeweißen Korallen: kein noch so ächzender Vergleich vermochte ihrem Liebreiz zu entsprechen – der wehte wie aus höheren Welten zu mir herab, und ich verlor die Bodenhaftung.

Trotzdem verhielt ich mich ihr gegenüber hölzern und starr, als wäre ich aus einer knorrigen Wurzel gehauen. Doch daheim, vor meiner Holzfigur, ihrem Ebenbild, lebte ich auf und floß über: ein Wildbach schäumender Gefühle.

Ich tat mit meiner toten Götzin, was bei der lebendigen Jasmin tabu war: ich küßte und herzte die Holzfigur mit so heißer Inbrunst oder auch einfach nur Brunst, daß meine Hitze eines Tages auf sie überging – jedenfalls flammte sie auf, brannte lichterloh und zerfiel zu Kokel. Erschrocken floh ich ins Bad, sprang in die Wanne und lösche meine versengte Kleidung mit der Brause. Schmerzhafte Brandblasen an Armen und Brust, stellte ich fest, als ich mir die löchrigen Fetzen vom Leibe streifte.

Doch das war nichts im Vergleich zu meiner Qual angesichts der Asche auf meinem wie durch ein Wunder unversehrt gebliebenen Teppich. Ich kehrte sie auf, kippte sie in eine Dose und streute sie auf der Rheinbrücke in den Wind. Sie wehte, eine ebenholzschwarze Wolke, hinunter zum Fluß, der sie mit sich nahm – aufs Meer hinausführte und, wie mir später träumte, weit fort zu ihrem Kontinent brachte, wo sie an Land gespült wurde und sich mit mir, der ich ihr als Zephir gefolgt war, in der milden Luft verband.

Der Arzt schrieb mich für drei Wochen krank. Als ich wieder zur Arbeit kam, war Jasmin verschwunden, und ich fragte Anna, eine Kollegin, nach ihr. Sie erklärte, Jasmins Aufenthaltserlaubnis sei abgelaufen gewesen und nicht verlängert worden. Die Polizei habe sie hier abgeführt und in ihr Heimatland abgeschoben. Ob es denn keine Möglichkeit gegeben hätte, das zu verhindern, fragte ich bestürzt. Ja, wenn du sie geheiratet hättest, sagte Anna lachend.

Seitdem geht mir das Wenn nicht aus dem Kopf und verbittert mein Leben.



http://de.youtube.com/watch?v=CAVyTPbFOjE


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