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Kassandra

Mir bricht die Welt zunehmend auseinander. Oft weiß ich nicht mehr, was wahr und was eingebildet ist. So ergeht es mir oft, daß, wenn ich in der Straßenbahn sitze und anderen Fahrgästen ins Gesicht schaue, diese sich plötzlich verwandeln. Aus den Zügen eines jungen Mädchens springen mir die der alten Frau entgegen, die sie einst sein wird. Oder ich sehe einen athletischen Mann als Behinderten in einem Rollstuhl sitzen. Manchmal ist es noch schlimmer: dann platzt die Haut meines Gegenübers auf, und verwesendes Fleisch kommt zum Vorschein, in dem Maden wimmeln. Dabei überkommt mich ein solcher Brechreiz, zumal ich auch noch den Fäulnisgeruch wahrnehme, daß ich aufspringe und zum äußersten Ende der Bahn fliehe, wohin mich aber der sich ausbreitende Gestank verfolgt, und ich sehe mich genötigt, beim nächsten Halt auszusteigen, selbst wenn ich dadurch einen wichtigen Termin verpasse. Draußen bleibe ich dann erst mal sitzen und erhole mich langsam, während ich die Augen zusammenkneife, damit sich beim Anblick neuer Menschen meine Einbildung nicht wiederholt, sie würden bei lebendigem Leibe verfallen.

Diesmal schaue ich vorzeitig auf, erleide einen Rückfall und hänge im nächsten Moment über einem Abfallkübel, um mich zu übergeben, während die in Auflösung begriffene Grufti-Erscheinung, die meinen Übelkeitsanfall ausgelöst hat, meinetwegen per Handy den Rettungsdienst, vielleicht auch das Wachpersonal anruft, so daß ich, ehe die Leute eintreffen, blind aufstehe, mich an der Kachelwand entlang zur Rolltreppe taste, hinauffahre und die U-Bahnstation fluchtartig verlasse.

Draußen aber ergeht es mir nicht besser: da ich nicht geradeaus auf die Passanten zu schauen wage, sehe ich hinauf zu den Haufassaden – die verwandeln sich in baufällige Ruinen, und ich renne, um mich vor Steinschlag zu schützen, wieder die Treppe zur U-Bahn hinunter und rette mich in die Kabine eines Paßfotoautomaten. Doch wie zucke ich zusammen, als ich in den Spiegel schaue: ich bin ein Zombie – und wieder hinaus, in die äußerste Ecke der Schließfächer, wo ich, damit ich nicht auffalle, einen bettelnden Blinden mime, mein Käppi im Schoß. Ich hoffe nur, daß mich die Patrouillen hier in Ruhe lassen. Der Migräneanfall, der mich dann überfällt, ist so heftig, daß ich nur noch auf die Kopfschmerzen achte und mich alles Äußere (ich habe mich in meinem Parka eingeigelt) nicht mehr kümmert. Erst nach geraumer Zeit tritt Linderung ein, und wie üblich, erfaßt mich anschließend eine so tiefe Erschöpfung, daß ich, zumal ich immer noch die Augen geschlossen halte, plötzlich einschlafe.

Ein Rütteln an meiner Schulter schreckt mich auf. Blankgewienerte Stiefel, Uniformhosen mit Bügelfalten, und daneben ein deutscher Schäferhund mit Maulkorb. Die bernsteinfarbenen Augen des Tiers haben etwas Irres – außerdem sträubt sich sein Nackenfell. Der Hund weicht knurrend zurück und zieht so heftig in die andere Richtung, daß er sich fast stranguliert, während er seinen Halter, einen dunkelblau Uniformierten mit roter Baskenmütze, mitzerrt, der nur deshalb nicht losläßt, weil seine Hand in der Schlaufe der Leine festsitzt, die, straff gespannt, den Mann beinahe zu Boden reißt. Er kümmert sich fluchend um den Hund, und auch seine beiden Kollegen haben jetzt nur noch Augen für ihn: Schaum tropft ihm aus dem Maulkorb, und ein Röcheln quält sich aus seiner zugeschnürten Kehle, ehe er zusammenbricht.

Jetzt ist die Aufregung um ihn so groß, daß ich mich unbemerkt erheben und davonmachen kann. Mein Käppi ist erstaunlich schwer. Ich blicke hinein: randvoll mit Münzen – ein kleines Vermögen. Ich muß einen so erbärmlichen Eindruck auf die Vorübergehenden gemacht haben, daß sie mir reichlich gespendet haben. Ich komme an dem Fotoautomaten vorbei, aus dem ich vorhin geflohen bin, und werfe schnell einen Blick in den Spiegel: alles in Ordnung. Trotzdem ist mir, als rieche ich nach Leiche – wieder eine fixe Idee? Jedenfalls gehe ich durch die Sperre in die Männertoilette – Kleingeld habe ich ja nun genug – und unterziehe mich an einem der Waschbecken einer gründlichen Reinigung. Auch Seife benutze ich, trotz meiner überempfindlichen Haut.

Nachdem ich mich gewaschen habe, sogar meine Füße, ist der eklige Geruch an mir nicht etwa verschwunden, sondern sogar noch stärker geworden. Ich rede mir das bloß ein, beruhige ich mich, und begründe es mit der Schlußfolgerung: weil ich mich überall eingeseift und abgespült habe, muß ich logischerweise nach Seife statt nach Penner, Müll und Verfall riechen – also kann der mir entströmende Gestank nur eine Sinnestäuschung sein. Ich habe schon öfter sowas erlebt und vertraue aus Erfahrung darauf, daß auch diese fixe Idee bald verblassen wird, spätestens morgen, wenn ich sie wie einen Horrortrip weggeschlafen habe.

Draußen rumort und lärmt es noch immer, als ich hinausgehe. Ich sehe den Rettungsdienst mit einer Liege hantieren. Was sie darauf heben, ist jedoch kein Mensch, sondern der Schäferhund: eine Hündin, wie ich jetzt bemerke. Trotz ihrer Atemnot hat man ihr nicht den Maulkorb abgenommen – hat sie etwa die Tollwut? In dem Augenblick, als ich mich vorbeidrücke, scheint sie mich zu wittern: sie fixiert mich mit phosphoreszierenden Wahnsinnsaugen und springt, gerade als sie festgeschnallt werden soll, heulend auf und mit langen Sätzen zur Rolltreppe. Ein Trupp schreiender Männer in reflektierenden Schutzanzügen folgt ihr. Ich aber schleiche mich über eine andere Rolltreppe nach draußen und sehe, daß es schon dunkel ist. Zu Fuß und durch menschenleere Nebenstraßen mache ich mich auf den langen Heimweg: in die Bahn traue ich mich jetzt nicht mehr.

Am nächsten Tag lese ich die Schlagzeile im Sichtfenster eines Express-Automaten: Wachhündin Kassandra von Sonderkommando erschossen. Mir kommt der Gedanke, daß sie die einzige Zeugin gewesen ist, die in mir einen lebenden Leichnam erkannt hat. Ach was, bei ihr ist der Irrsinn ausgebrochen, und sie mußte mit einem finalen Rettungsschuß gestoppt werden!


http://de.youtube.com/watch?v=veHWXliK2ns&feature=related


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