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Die Sirene

„Einen wunderschönen Guten Morgen!“ rief der Pfleger Gabriel mit Schwung, der diesmal nicht vorgetäuscht war, als er Frau Seides Zimmer betrat. Er mochte sie, und das beflügelte ihn. Sie war wunderschön, zumindest ihr Gesicht, das zu einer Madonna zu gehören schien. Und Haare hatte sie – ihr Name paßte dazu, als hätte sie ihn extra ihretwegen bekommen: prachtvoll gewellt, bis zu den Hüften reichend oder reizend hochgesteckt.

     Gewöhnlich duzte Gabriel die Bewohner im Behindertenheim, aber bei Sabine Seide war er vorsichtig: sie hatte etwas von einer Sirene, die ihn in ihren Bann ziehen und ihn rettungslos hörig machen konnte. Außerdem war sie eine gefährliche Denunziantin: sie verdrehte den anderen Behinderten im Hause den Kopf und behauptete hinterher aus einer Laune heraus, sie hätten sie vergewaltigt. Schon manchen hatte sie so vor Gericht gezerrt und in arge Bedrängnis gebracht.

     Dem weiblichen Pflegepersonal gegenüber benahm sie sich äußerst zickig: als mißgönnte sie den Schwestern ihre gesunden Beine und ihr selbstbestimmtes Leben. Den Pflegern hingegen warf sie sich buchstäblich um den Hals. Kaum hatte Gabriel sie zum ersten Mal erblickt, hatte sie auch schon mit ihm zu flirten begonnen. Er war wie verzaubert von ihr gewesen: so anziehend hatte sie auf ihn gewirkt – eine richtige Hexe.

     Beim ersten Zubettbringen, als er sie vom Rollstuhl hoch und aufs Bett heben mußte, hatte sie, an seine Brust geklammert, einen Kuß auf seine Wange gedrückt. Zwar hatte er gewußt, daß sie betrunken gewesen war, aber es hatte trotzdem wie Feuer in seinem Gesicht geglüht.

     Und noch andere Fallen wußte sie ihm zu stellen. Obwohl per Dienstanweisung eine distanzierte Haltung ihr gegenüber gefordert wurde, woran er sich mühsam hielt, durchbrach sie immer wieder gezielt gewisse Grenzen. So stöhnte sie, wenn sie beim Saubermachen nackt vor ihm lag, ihre Scham brenne sie so arg, ob er sie dort nicht eincremen könne. Meistens hielt er ihr bei solchen Anlässen die Niveadose hin, damit sie mit dem eigenen Finger erst dort und dann bei sich hineinfahren konnte. Aber dann zelebrierte sie ein Schauspiel vor seinen Augen, das fast schon an Masturbation erinnerte, zumal sie dabei stöhnte, was sie als Äußerungen des Schmerzes ausgab, für ihn aber wie Lustschreie klang – und er stand äußerlich gleichgültig dabei, im geheimen aber so erregt, daß er die Beine übereinander kreuzen mußte, damit sie nichts davon bemerkte.

     Manchmal machte er es auch selber, und sie sah ihn dann so verzückt dabei an, daß er sich sagte, er tue es ja nur aus Mitleid für sie – aber stimmte das auch? Hinterher hatte er zwar keine Gewissensbisse, doch er fürchtete, sie könnte ihn anzeigen und so seinen Job gefährden, an dem er nicht gerade hing, der aber noch das Beste gewesen war, was er sich als Ungelernter in dieser Branche hatte angeln können: die Vorstellung, wieder in einer Leiharbeitsfirma arbeiten zu müssen, war der reinste Horror.

     „Wie geht’s?“ fragte Gabriel strahlend – er strahlte wirklich, war er doch schon längst in sie verliebt und gestand es sich nur noch nicht ein.

     „Ich habe gräßlich geträumt“, erwiderte sie. Das tat ihm leid, und er hätte sie gern getröstet. Was es denn gewesen sei, wollte er wissen.

     „Man hat mir die Beine abgehackt.“

     „Uh, zum Glück sind sie ja noch dran!“ rief er und wollte die Decke zurückschlagen, um es ihr zu beweisen. Doch etwas hielt ihn zurück. Irgendwas stimmte heute nicht. Er bekam plötzlich ein Gefühl, als befinde er sich in einem Alptraum, als hätte er keinen Grund mehr unter den Füßen.

     Auch roch es heute so unangenehm. Ein ganz fürchterlicher Geruch – was war das? Sehr gepflegt war Frau Seide nie gewesen. Sie roch im Gegenteil oft ziemlich penetrant nach körperlicher Verwahrlosung, ein frappierender Kontrast zu ihrem beinahe elfenhaften Antlitz, das übrigens immer makellos sauber war, meist raffiniert geschminkt. Und dagegen dieser Gestank: hatte sie ihre Tage? Es war ein Gemisch aus Stuhlgang, Urin, Schweiß, aber auch Verwesung und – ja: ranzigem Blut.

     Zaghaft hob er die Decke am unteren Zipfel an – und ließ sie erschrocken wieder fallen.

     „Was ist mit dir?“ fragte Frau Seide, die ihn grundsätzlich duzte.

     „Nichts. Ich hab letzte Nacht zuviel gesoffen“, redete er sich heraus, und sie lachte: das kenne sie. Tatsächlich hatte sie zu ihren sonstigen unangenehmen Ausdünstungen meistens auch eine ziemliche Fahne. Eigentlich war es krank – aber Gabriel machte das besonders an: der entstellte und miefende Körper einer Spastikerin im Gegensatz zu ihrem makellosen Gesicht  - es wurde durch diesen Unterschied gleichsam erhöht, schöner, ideal.

     Er mußte sich erst mal setzen. Das Fenster durfte er nicht öffnen: sie fror ja so schnell.

     „Du bist vielleicht bleich.“

     „Mir ist schlecht.“

     „Ja ja, das Saufen.“ Sie lachte wieder mit ihrer glockenhellen Stimme, die ihn jedesmal in der Zwerchfellgegend kitzelte, auch jetzt, während er sich umblickte – und große Augen bekam. Da standen ihre hohen Schnürstiefel. Aber das war nicht das Entsetzliche, sondern – sie hatte es nicht geträumt, sondern wirklich durchlitten: der Blick vorhin unter die Decke war keine Täuschung gewesen, sondern stimmte mit diesem Anblick überein.

     Aus den Schuhen ragten die Beinstümpfe, an den Oberschenkeln abgehackt, so wie Frau Seide im Bett genau an der Stelle aufgehört hatte, da zu sein: an den gräßlich zerfleischten Beinstümpfen, nicht säuberlich abgetrennt, sondern wüst abgehauen, allerdings professionell abgebunden, so daß sie nicht verblutet war.

     Aber wie konnte sie das aushalten – mehr noch: nichts davon wissen? Da dämmerte ihm ein Traum, den er selber letzte Nacht gehabt, aber vollständig verdrängt hatte – nur daß sich dieser Traum im nachhinein als Realität herauszustellen drohte. Wie auf Fotografien im Entwicklungsbad sich langsam die Motive herausbilden, so kam ihm die Erinnerung wieder.

     Er hatte geträumt, zumindest geglaubt, daß es ein Traum gewesen war, daß er letzte Nacht ins Behindertenwohnheim eingedrungen und mit seinem Passepartout in die Küche gelangt war. Dort hatte er ein Schlachtermesser aus der Schublade geholt, anschließend Verbandsmaterial aus dem Medikamentenzimmer sowie Morphiumpflaster aus dem dortigen Gifttresor genommen (er wußte, wo der Schlüssel aufbewahrt wurde) und war dann zu ihr hingeschlichen.

     Leichenblaß erhob sich Gabriel vom Stuhl und ging wie somnambul aus dem Zimmer, ohne auf Frau Seides Rufen zu achten. Gegen Mittag fanden ihn seine Kollegen hinten im Gymnastikraum. Die Spritze steckte noch in seiner Vene – ihm war nicht mehr zu helfen.

     Erschüttert standen die Bewohner und das Personal Spalier im langen Gang, als sein Leichnam im Sarg auf dem fahrbaren Untersatz herausgeschoben wurde. Frau Seide saß in ihrem Rollstuhl dabei. Eine Schwester hatte sie, nachdem sie Alarm geklingelt hatte, aus dem Bett herausgeholt, gestiefelt an beiden Beinen, die dort waren, wo sie hingehörten: an ihrem von der Krankheit verbogenen Körper. Ein leises Lächeln flackerte in ihrem schönen Gesicht.


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