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Kontrapunkt

Bevor ich nach dem Spätdienst aufs Rad steige und meine Heimfahrt antrete, drücke ich auf den Knopf meines Dynamos, und er schnappt gegen das Hinterrad.

Die Dynamokrone erzeugt durch das Reiben am Reifen ein schleifendes Geräusch. Es steigert sich zu einem Brummen, flaut ab zu einem Wispern, wird dann wieder laut und erzeugt melodische Klänge. Sie erinnern an synchron gestrichene Streichinstrumente: leicht und geisterhaft wie Sphärenmusik, Harmonien einer Äolsharfe. Es klingt wie der buntbemalte Blechkreisel aus meiner Kindheit: bei dem Luftzug, der durch seine Ritzen fuhr, ertönte in säuselnden Sinuskurven ein überirdisches Brausen, das mit meinem Glücksgefühl identisch zu sein schien.

Es ist ein komplexer, nie monoton werdender Klangteppich, dem ich lausche, während ich über verkehrsfreie Nebenwege durch die Finsternis rolle, in die mein schwaches Fahrradlicht einen gelben Lichtkegel schneidet, der nur den unmittelbaren Ausschnitt vor mir beleuchtet. Rollsplitt spritzt wie Wasser vom Vorderrad weg, das sich wie eine Kreissäge in das sichtbare Wegstück hineinfrißt. Von den weghuschenden Schatten weiß ich, daß es sich um Kaninchen handelt, die hakenschlagend davonstieben.

So gleite ich gedankenversunken durch die Dunkelheit, abgehoben in sanfter Bewegung, und der sinfonische Dynamolärm verstärkt noch die unwirkliche Stimmung. Geräusch und Geschwindigkeit bilden eine Einheit. Manchmal schrecke ich auf wie durch Paukenschläge beim Holpern durch ein Schlagloch oder über einen Weghubbel: meist eine Wurzel, die den Asphalt aufgebrochen hat. Hin und wieder lassen mich auch Zackenstriche hochfahren, die dicht vor mir auftauchen: überraschte Kaninchen – schon wieder verschwunden.

Jetzt sehe ich zwei Fuchssilhouetten, eigentlich nur die Reflexe meines Radlichts in ihren phosphoreszierenden Augen, und ich muß unwillkürlich an Tollwut denken: was ist, wenn sie mich anfallen, mit schäumendem Geifer am aufgerissenen Rachen? Als hätte meine Vorstellung die Macht, sich in die Wirklichkeit zu verwandeln, stürzen die Raubtiere tatsächlich herbei, statt die Flucht zu ergreifen, und schnüren nun rechts und links neben ihm her: lange Schatten, von den flachgehaltenen Ruten bis zu den spitzen Schnauzen und Ohren, dazwischen das Glimmern ihrer funkelnden Lichter, erfaßt vom Radscheinwerfer, und der Dynamo kreischt auf einmal kakophonisch, während die weißen Dornen ihrer Zähne blitzen.

Ich fühle mich schrumpfen. Statt rollende Räder habe ich plötzlich trommelnde Pfoten unter mir, und ich schlage Haken in abrupten Sprüngen, um meinen Angreifern zu entkommen, die mich jetzt riesengroß überragen. Ich wittere den Aasgeruch aus ihren schnappenden Rachen, die mich knapp verfehlen – da spüre ich ihre Reißzähne in meinen Flanken.

Herumgeschleudert in Staub, Blut, Haaren und flockendem Speichel, überwältigt von ihrem Raubtiergestank, ihren Krallenhieben und zerfleischenden Zähnen, gepackt von Todesangst, sinke ich zu Boden und in eine tiefe Betäubung: ein schwarzes Loch, das mich verschluckt.

Irgendwann komme ich wieder zu Bewußtsein. Ich rappele mich auf und begreife, daß ich, erschreckt durch die Füchse, vom Rad geflogen bin und die Besinnung verloren habe. Ich taste mich ab in der Finsternis und stelle erleichtert fest, daß ich mich, abgesehen von ein paar Blessuren, nicht ernstlich verletzt habe – wohl weil ich auf den weichen Rasen am Wegrand gestürzt bin. Auch mein Rad ist noch heil und schabt nur ein wenig am vorderen Schutzblech.

Vorsichtig steige ich auf und setze mich wieder in Bewegung – jetzt gleichsam mit dem kontrapunktischen Klang eines doppelten Streichorchesters: hinten jubiliert der Dynamo und vorne zischt das schleifende Rad.


http://de.youtube.com/watch?v=xe8yAJGuLRE&feature=related


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