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Eine ganz gewöhnliche Frau

Sie ist winzig. Von Kissen seitlich und im Rücken gestützt, sitzt sie aufrecht in ihrem Ohrensessel. Sie macht nichts als dazusitzen. Dabei spitzt sie die Ohren – die einzigen Organe, die noch wirklich gut bei ihr funktionieren, ja überdurchschnittlich entwickelt sind, wie zum Ausgleich für sonst ausgefallene Körperfunktionen. Natürlich sieht sie auch noch gut und ist bei klarem Verstand. Aber herausragend ist ihr absolutes Gehör. Wie es von Hunden heißt, daß sie vielfach empfindlichere Nasen haben als Menschen, kann von ihr gesagt werden: ihr Gehör übertrifft das ihrer Artgenossen vielleicht so, wie das von Fledermäusen das anderer Tiere.

Tatsächlich erinnert sie ein wenig an diese geheimnisvollen geflügelten Nachttiere: in ihrer Zerbrechlichkeit. Auch ragen ihre Eckzähne spitz über die dünnen Lippen hinaus: kleine Marmordolche, könnte man meinen. Dabei kann sie gar nicht mehr beißen, nicht einmal mehr kauen. Ihre gesamte Muskulatur, und nicht nur die ihres Mundes und Halses, ist so geschwächt, daß sie, ungestützt, wie eine schlaffe Gliederpuppe baumelt und pendelt. Selbst die kleinsten, unscheinbarsten Bewegungen kann sie nicht mehr ausführen, etwa die Hand zur Klingel heben oder, liegen ihre Finger darauf, den Knopf drücken – geschweige denn, ihre Kauwerkzeuge arbeiten zu lassen. Sie vermag ja kaum mit dem Strohhalm flüssige Nahrung zu schlürfen, und, wenn sie es doch geschafft hat, sie herunterzuschlucken, bevor sie ihr wieder aus dem herabgesackten Mund herausläuft.

Tröpfchen für Tröpfchen saugt sie mühselig auf, und ein geschulter Pfleger muß ihren kraftlosen Kopf an den Schläfen fassen und vorsichtig zurückschwingen, damit die Nahrung in den Rachen rinnen und so in den Magen gelangen kann – aber Vorsicht: jeder Schluck birgt die Gefahr eines lebensbedrohlichen Hustenanfalls. Deshalb ist sie im Grunde auch hauptsächlich mit der anstrengenden, höchst gefährlichen Nahrungsaufnahme beschäftigt, ein schwieriges Unterfangen, dessen Aufwand kaum den Gewinn aufwiegt. Was sie an Kräften aus einem dieser unter größten Heikeligkeiten hinabbeförderten Tropfen bezieht, geht durch Streß, komplizierte Bewegungsvorgänge und Krämpfe sogleich wieder verloren. Ihr ohnehin auf Sparflamme arbeitender Organismus verbrennt aufgrund der immensen Schluckbeschwerden mehr Kalorien als er bekommt. Erschöpft durch die Aufnahmeprozedur, ist dann alle Energie so total aufgezehrt, daß es fast ergiebiger wäre, das Essen einzustellen statt sich damit abzuquälen: es rechnet sich einfach nicht – wie wenn ein Motor mehr Kraftstoff benötigt, um in Bewegung zu bleiben, als Leistung dafür zu erbringen.

Da sie bei ihrer extremen Magerkeit auch nicht vom eigenen Fleisch zehren kann, fragt man sich, wovon sie überhaupt lebt. Ihre Existenz grenzt für viele an ein Wunder. Schon seit einem halben Jahrhundert schleppt sie sich, immer schwächer, durch die Zeit. Ärzte haben sie bereits vor Jahren aufgegeben, ihr höchstens noch einige Tage eingeräumt. Sie aber hat nicht nur ihre Prognosen über den Haufen geworfen, sondern sie selber um Dezennien überlebt. Ganze Heerscharen an Pflegern und Pflegerinnen sind schon an ihr vorbeigezogen: frisch aufschießendes Gras, das verdorrte und neuen Generationen wich. Und sie, die Gebrechlichste, Verletzlichste, Hilfloseste – diese Schwächste überdauert seit je die Stärksten. Daher haftet ihr etwas Mythisches an, wozu auch ihre Erscheinung paßt: zwar hat sie zarte Fledermausknöchlein und nutzlose Vampirzähnchen, aber eigentlich erinnert sie an ein urzeitliches Reptil – wozu auch kleine Eidechsen gehören. Alles an ihr beschwört diese Vorstellung herauf, obwohl sie beileibe keine wie auch immer geartete Leder- oder gar Krokodilshaut hat, sondern im Gegenteil die feinste, an Babys oder zarte Früchte erinnernde Epidermis. Trotzdem gemahnt alles an ihr an ein vorsintflutliches Echsengeschöpf, ohne daß eindeutig festgemacht werden kann, woran das wohl liegt. Denn, wie gesagt: alles an ihr ist vom Fragilsten, selbst ihre Stimme, deren Flüstern oder gar nur noch kaum vernehmliches Hauchen nichts von den Tönen eines Dinosauriers hat. Dennoch assoziiert man eine Echse – gleichzeitig wird auch eine damit verbundene Angst geweckt.

Frappierend sind also besonders die scheinbaren Gegensätze an ihr, die sich zu einem paradoxen, höchst beunruhigenden Gesamteindruck verdichten. Hinzu kommt ihre absolute Herrschsucht: nicht nur ist sie empfindlicher als selbst die Prinzessin auf der Erbse – auch ist sie ein grausamer Despot. Sie zu pflegen, ist eine Kunst für sich: es erfordert das Äußerste an Geschick, Routine, Geduld und Feingefühl. Nur das ausgesuchteste Personal wird zu ihr vorgelassen. Ihr vernichtender Blick ist wie ein Richtbeil. Und kann sich ein außerordentlicher Mensch mal ungewöhnlich lange bei ihr halten, bricht er zuletzt doch zermürbt und total entnervt zusammen: seine Ausdauer hat ihn nur umso gründlicher zerstört.

Trotzdem mangelt es nicht an Personal. Man drängt sich geradezu inbrünstig in diese doch nur Zerrüttung bringende Aufgabe hinein. Es hat etwas von fanatischem Kämpfertum: man will gar nicht siegen, sondern sich opfern, sozusagen glorreich untergehen. Und sie sitzt unbeweglich da, aufgestützt, quasi ganz ohne Muskeln, jahrein, jahraus, wie die stillstehende Zeit, in ihrem mit Kissen ausgepolsterten Ohrensessel, eine Mischung aus Sybille, Sphinx, Echse, Fledermaus, Prinzessin auf der Erbse, aber auch Elfe – sitzt da wie eine immer gebärende Ameisenkönigin, und statt Eier scheidet sie Gewisper aus, zäh wie Spinnweb, aber ebenso unzerreißbar für die Insekten, die sich darin verfangen, gebannt von ihrem eckzahnspitzigen Lächeln, zermürbt von ihrer Hilflosigkeit, die einen reflexartigen Bemutterungsinstinkt bei ihren Pflegern auslöst, der aufs Unbedingteste angestachelt wird, während sie parallel dazu niedergemacht werden von ihrer ewigen Unzufriedenheit, ihren zahllosen Sonderwünschen.

Wie Gift sickert sie in ihre Helfer ein. Das vertreibt sie aber nicht, sondern fesselt sie nur umso mehr an sie, bindet sie mit einer schon masochistisch anmutenden Nibelungentreue, macht sie hörig – entselbstet sie gewissermaßen und füllt sie vollkommen aus mit ihr und der Bereitschaft, nur noch für sie da zu sein. Umso schlimmer dann ihr vernichtendes Urteil, ihr Bannfluch über sie, die, also verdammt, aus dem Gravitationsfeld ihrer Gunst fallen, und während die niedergestreckten Statisten von der Bühne geschleift werden, stürmen bereits die neuen Heldenfiguren auf dieselbe, voller Eifer, begierig, an ihrer Flamme zu verbrennen. Dabei hat sie nichts Feuriges oder auch bloß heimelig Wärmendes an sich, im Gegenteil: kalt ist sie, giftig, peitschendünn und lauernd wie eine Schlange, und ihr verzerrtes Maul erinnert fatal an ein Echsengrinsen. Dann wieder schürzt sie die Lippen zu einem schwächlichen Griff um den Strohhalm, den sie aus eigener Kraft gar nicht halten kann. Und während sie schmatzt und schlürft, durchrieselt den Pfleger, der ihr die Flasche hinhält, ein Schauern und Zagen, als sauge sie nicht die Nahrung aus dem gläsernen Behälter, sondern das Mark aus seinen eigenen Knochen: unsäglich süß und betörend – so mußten Märtyrer im Moment ihrer Verzückung empfunden haben. Dabei ist sie weder ein Gott noch sonst in Verbindung mit einer höheren Macht – die kommt vielmehr aus ihr selbst, während sie doch eine ganz gewöhnliche Frau ist.

Ich weiß es bestimmt, denn ich bin einer ihrer derzeitigen Betreuer und habe sie gründlich studiert und erforscht: wie sie meine Herzschläge registriert, so nehme ich sie hellhörig wahr, belausche sie nicht nur mit den Ohren, sondern mit all meinen Sinnen, die ich auf Empfang stelle, sobald ich zu ihr hinein muß – jetzt gleich!


http://de.youtube.com/watch?v=5qmAPBlzLt4


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