Hallo,
Buchvorstellung
Kontakt
Gästebuch
Fetzen
Zu Arno Schmidt
Der Gottesmann
Milka oder Schlachtgraus (Überarbeitete Fassung)
Schlachtgraus
Zwangsvorstellungen
In der Falle
Wie ich hierher gelangte
Kontrapunkt
Kassandra
Kall und Rother
Durchgedreht
Die Sonne
Eine ganz gewöhnliche Frau
Engel
Wenn
Das Geheimnis
Reiten und reiten
Das Marmormädchen
Niedergang
Schwarze Splitter
Lachendes Entsetzen
Mikrokosmos
Vision
Lichterscheinung
Die Erbsünde
Ein Mißverständnis
Monolog oder Rondo
Die Sirene
Vorfreude auf Damenbesuch
In feuchter Erwartung
Kinderschänder
Unverhofft
Mahlzeit!
Ich bestimme die Welt!
Friedhof
 

Engel

Meine große Jugendliebe war Angelika, eine Mitschülerin, in die ich alles hineinsehnte. Sie war meine Lebensüberhöhung, Hinweis auf etwas Schönes, Tröstliches, Vollkommenes jenseits des Alltags. Nicht nur, daß ihr Name Engel bedeutete – sie war auch einer für mich. Wie aber hätte ich pickeliger Mitschüler einem solchen überirdischen Wesen meine Liebe gestehen können? Nein, ich durfte diese Blume aus dem Paradies nur aus der Ferne anhimmeln.

Während ich sie idealisierte, machten sich andere Klassenkameraden an sie ran. Auf einer Schulfete sah ich Michael, Schwarm aller Mädchen, mit ihr in einer Ecke herumknutschen. Mehr noch: Angelika half dem ungeschickten Fummler, ihren Hosenknopf zu öffnen, und ließ sich bereitwillig ins Allerheiligste grabschen. Da besoff ich mich zum ersten Mal in meinem Leben.

Erst wollte ich ins Kloster gehen, aber dann überlegte ich: wenn selbst Engel auf Erden brünstig wie das Vieh waren, konnten auch die Diener Gottes nur ein versauter Haufen sein, mit dem ich nichts zu tun haben wollte. Also wurde ich nicht Mönch, sondern ein ungeselliger Sonderling und später, weil ich alles schleifen ließ und keine Ausbildung machte, notgedrungen Hilfspfleger, um die Miete für mein Kellerloch, in dem ich hauste, zahlen zu können.

Die Strafe des in meinen Augen gefallenen Engels ließ nicht lange auf sich warten: Angelika, schon vor dem Abitur schwanger, ging ohne Abschluß von der Schule. In einer immer wiederkehrenden Phantasie sah ich mich hinter ihr herlaufen, ihr den Ring meiner toten Mutter, den ich mir vom kleinen Finger zog, gewaltsam auf den Ringfinger ihrer abwehrenden Hand überstreifen und dann davonlaufen, damit sie mich nicht heulen sah.

Weniger melodramatisch, knüpfte ich einen erst zaghaften Briefkontakt zu diesem Meerstern meiner Jugend, der dann vertraulich und beständig wurde. Doch ihre Einladungen schlug ich immer wieder aus: ich wollte die Aura, die sie für mich trotz allem noch umgab, nicht zerstören.

Fünfzehn Jahre später begegneten wir uns zufällig in der Innenstadt wieder. Ich erkannte diese häßliche Fremde erst gar nicht, die mich da plötzlich anquatschte – bis es mir langsam dämmerte, mit wachsender Ernüchterung: mein Gott! Jetzt erinnerte ich mich sogar an einzelne Details: körperliche Merkmale, etwa ein Muttermal an ihrem Hals, das sich zu einem monströsen Knötchen ausgewachsen hatte und mich an Hautkrebs denken ließ. Fett und unförmig war sie, vorzeitig gealtert, mit einem faltigen Altfrauengesicht, das hennarot gefärbtes Haar wie spilleriges Spinnweb umwehte – als hätte sie ihre frühere Herrlichkeit von Schwangerschaft zu Schwangerschaft eingebüßt. Darüber hatte sie mich brieflich auf dem Laufenden gehalten: sieben schnell aufeinander gefolgte Kinder, und nach ihrer letzten Niederkunft mit Zwillingen muß sie mit einem Schlag zur Greisin geworden sein – jetzt, in einem Eiscafé, erzählte sie lang und breit davon. Der Arzt hatte ihr zur Sterilisation geraten, da sie eine weitere Geburt nicht überleben würde. Aber das war gegen ihre Prinzipien gewesen, und stattdessen hätten sie und ihr Mann seitdem nicht mehr miteinander geschlafen.

Aha. Betretenes Schweigen. Ich hatte eher den Verdacht, daß ihr Mann die Ehe mit dieser von ihm zuschanden strapazierten Mutter-Ruine einfach nicht mehr vollziehen wollte und sie sich deshalb auf diese Vereinbarung geeinigt hatten – aber warum erzählte sie mir das? Es war mir peinlich. Doch es überkam mich ein Kribbeln, als ich den Ring an ihrem Finger sah: ähnlich wie der von meiner Mutter in meinen Wachträumen, und als würde ihr Alter mit einem Mal von ihr abfallen, erstand sie in ihrer einstigen Hübschheit wieder vor mir auf. Ich spürte erneut dieses einstige Sehnen – nur kurz, aber es reichte, daß ich mich breitschlagen ließ, zuzustimmen, sie nächste Woche im nicht weitentfernten bergischen Dorf, in dem sie schon seit Jahren in einem Einfamilienhaus lebte, zu besuchen. Sie machte gleich einen genauen Zeitpunkt mit mir aus.

 

Ich betrete das Haus: unbekanntes Territorium, und ich mache mich klein, als erwartete ich einen Angriff aus dem Hinterhalt. Fremde Gerüche, warnende Duftmarken – Revier eines Rivalen: ihr Mann, ebenso knitterig und grau wie ich. Im Hintergrund: Toben der Kinder - junge Geißlein, und ich krächze, als hätte ich Kreide gefressen, im mißglückten Diskant eine Begrüßung.

Innerlich scheue ich zurück und wäre am liebsten davongelaufen. Äußerlich reiße ich mich am Riemen und die Kandare so weit in den Rachen, daß mein Mund zu einem Grinsen hochgezogen wird. Ein neu angesetztes Gurgeln quillt mir über die wie geknebelte Zunge und wird mit einem freundlichen Grunzen des Hausherrn erwidert: Entwarnung – trotzdem bleibe ich auf der Hut. Ich traue dem Mann nicht, hinter dessen Fassade ich sehen zu können meine: da verbergen sich andere Gefühle als die, die er vorgibt – Skepsis, Mißtrauen, verhohlene Feindseligkeit. Wäre ich nicht der älteste Freund seiner Frau, hätte er mich wohl auf der Stelle hinausgeworfen. So aber hat er eine Maske über seine Emotionen gestülpt, die er mit seinen Mienen wenigstens nach außen hin zu bändigen sucht. Auch meine Mimik erstarrt zur leeren Grimasse und wird, ehe sie wie poröses Gummi zerbröckelt, in neuen Mienenspielen gebändigt, um die Illusion inniger Herzlichkeit aufrechtzuerhalten. Am liebsten hätte ich ein Visier vor meinem Gesicht heruntergeklappt und aus sicherer Deckung durch die schmalen Sehschlitze hervorgelugt.

Oder täusche ich mich? Ich bin mir nicht sicher, ob das, was ich sehe, auch wirklich stimmt, und mißtraue meinem Scharfsinn, der vielleicht nur eine verzerrte Wahrnehmung ist. Das macht mich noch verrückt, zumal ich mir jetzt einbilde, der andere verwandle sich in einen feuerspeienden Drachen, wie der Lindwurm, der auf seinem Hort liegt und ihn vor jedem Eindringling verteidigt. Nur daß sich der Vater hier als Schild vor seiner Familie aufbaut, dem Schatz seiner Kinder, um sie vor mir, dem sich einschleichenden Wolf, zu schützen. Mag ich auch noch so viel Süße in meine Stimme legen und ihm die weißgebürstete Pfote zum Händeschütteln geben: er hat mich durchschaut und gibt das mit einem Brüllen zu erkennen – es ist nur das Rufen nach seinen Kindern, die mich, den Gast, willkommen heißen sollen.

Gepolter auf der Holztreppe. Es kommt von oben und unten. Aus den Tiefen des Kellers tauchen zwei Blondköpfe auf, einer mit hüpfendem Pferdeschwanz, der andere mit wippenden Rattenschwänzchen an den Seiten: entzückender Anblick – Nadja und Tanja, die Zwillinge. Auch jetzt spielt mir mein inneres Gesicht einen Streich. Nicht Mädchen, sondern Kaninchen sehe ich die Stufen hochhopsen, mit einem so weichen und samtenen Fell, daß ich Sehnsucht verspüre, sie an mich zu drücken. Ich muß mich am Gestänge des Treppengeländers festhalten, um auf den weichgewordenen Beinen nicht einzuknicken.

Im nächsten Moment sind aus den Kaninchen Paradiesvögel geworden, piepsende, flatternde. Das verwirrt mich so sehr, daß ich ihre Begrüßung wie einen angenehm rieselnden Wasserfall über mich ergehen lasse: ich begossener Pudel stehe einfach bloß da und genieße ihren Anblick mit einem belämmerten Lächeln – köstliche Speise. Süß schmeckt auch ein anderer Augenschmaus: die beiden Jungen. Gabriel, ganz und gar mit Sommersprossen übergossen, und Cherubin (seine Eltern haben ihn tatsächlich nach dem Pagen in der Mozartoper genannt), brünett und mit zartweißem Teint: Schneewittchen als Knabe. Dann tritt Angela auf, das älteste Kind – ein Lichtstrahl aus massivem Gold, der mir einen Stoß in den Magen versetzt und mir beim Handreichen den rechten Arm bis zur Schulter zu Asche verbrennt. Zum Glück wächst mir gleich einer nach, aber auch in dem neuen spüre ich noch diesen Brand.

Zwei der Geschwister, heißt es, sind bei Freunden in der Nachbarschaft. Unter den neugierigen Augen der anwesenden Kinder fühle ich mich wie ein Versuchstier auf dem Sezierbrett, noch lebend, so daß ich unter ihren scharfen Skalpellen zucke und bebe, während sie mir den Leib öffnen, meine pulsierenden, peristaltischen, dampfenden Innereien freilegen, für deren häßlichen Anblick ich mich am liebsten entschuldigt hätte – jeder Schnitt keine Qual, sondern eine Wonne, vermischt mit lähmender Verlegenheit.

Angelika löst den Bann. Nachdem sie das Auto, womit sie mich vom Bahnhof abholte, auf dem Vorplatz abgestellt hat, kommt sie zur Haustür herein. Sie bringt meine Tasche mit und fragt mich, wie mir ihre Kinder gefallen. Ich zucke die Achseln und vergleiche im stillen die Mutter mit ihrer ältesten Tochter, die mich knapp überragt – außerdem sieht sie heute genauso aus, wie damals meine Mitschülerin. Plötzlich huscht Angela durch den Spalt der zufallenden Tür: eine Sylphe in flatterndem Seidenkleid, und weg ist sie.

Ich darf hier keinen Augenblick länger bleiben – wie das erklären? Es geht nicht. Ich drehe mich stumm auf dem Absatz um und folge der Erscheinung nach draußen. Drüben flattert Angela über den Wiesenhügel. Jetzt springt sie über einen Weidenzaun, schwingt sich auf den schnaubenden Schimmel und galoppiert die Anhöhe hinauf: ein Schleier im Wind, der sich mit den Wolken zu mischen scheint. Ich breche aufs Knie und stammele wie im Gebet. Meine Gastgeber eilen herbei. Ich gebe einen Schwächeanfall vor, rappele mich auf und erkläre, ich müsse nach Hause, fühle mich elend, sie sollten bitte ein Taxi rufen. Angelika schüttelt den Kopf. Sie und ihr Mann stützen mich und betten mich aufs Sofa im Wohnzimmer.

Alles nehme ich wie durch einen Nebel wahr. Angela, sage ich lautlos und bewege dabei die Lippen, und Angelika, die mich beobachtet, meint ihren Namen von ihnen abzulesen – sie lächelt, und ich lächele verzerrt zurück.

Am Abendbrottisch sitze ich Angela gegenüber. Ich habe keinen Hunger und schütze eine Magenverstimmung vor. Außerdem zittern meine Hände. Beim Hantieren mit dem Besteck würden sie mich verraten. So presse ich sie auf die Tischplatte und halte mich kerzengerade. Meine Augen huschen dauernd zu ihr hinüber und zucken weg, sobald sich unsere Blicke treffen. Die Mutter kriegt das mit, und nach dem Essen fordert sie ihre älteste Tochter gereizt auf, den Tisch abzuräumen. Ich bleibe wie benommen sitzen, während die anderen Kinder davonstürmen.

Angela zieht sich ins Nebenzimmer zurück. Da erklingt, gedämpft durch die geschlossene Tür, Klaviermusik, Chopin, und ich beiße mir in die Hand. Als die Zwillinge lärmend hereinkommen, verberge ich mein nasses Gesicht hinter dem hastig hervorgezogenen Taschentuch.

Nachts wühle ich schlaflos im Bett, drehe die Decke zu einem Strick, umklammere sie mit den Beinen und würge das Kissen.

Am Kaffeetisch gebe ich Fieber und Schüttelfrost vor und bitte Angelika, mich zum Bahnhof zu bringen. Sie hebt abwehrend die Hände. Doch ihr Mann tut besorgt und bietet sich an, mich zu fahren. Angelika springt auf und holt die Autoschlüssel.

Ob sie mit könne, fragt Angela, und Angelika zögert. Die anderen Kinder wollen jetzt auch alle mit. Nein, die Mutter erlaubt es nur der Ältesten, und die schnappt sich meine Tasche.

Unterwegs schweigen wir. Die Scheiben sind zugeeist – kaum sieht man die Straße. Angelika starrt durch eine sichtfreie Stelle, über die sie immer wieder reiben muß. Ich betrachte sie von der Seite und begreife, daß sie weiß, was mit mir los ist. Ich bin ihr dankbar für das Schweigen. Beim Abschied lächelt sie flüchtig und wird noch mal schön. Plötzlich streift sie ihren Ring von ihrem Finger und gibt ihn ihrer Tochter, die ich gar nicht anzublicken gewagt habe und die ihn mir nun auf den kleinen Finger steckt. Ich weiß gar nicht, was los ist, und muß die Brille abnehmen, weil sie plötzlich beschlagen ist.

Besuch uns mal wieder, sagt Angelika, und Angela nickt. Ich spüre die alte Ergriffenheit, von der ich nicht mehr geglaubt habe, daß ich sie noch einmal erleben würde. Ich strahle und sehe verschwommen ihre Schatten hinter den beschlagenen Scheiben des wegfahrenden Autos.

Das Beißen des Frosts in Fingern und Zehen. Es ist ein Frieren von innen nach außen: das Wissen, daß es keine Engel auf Erden gibt – wer ihnen dennoch begegnet, hat eine Grenze überschritten, und plötzlich fühle ich mich wie auf Wolken.



http://de.youtube.com/watch?v=GHZTLU8VD4I
http://de.youtube.com/watch?v=tIVOiansY9w


Diese Webseite wurde kostenlos mit Homepage-Baukasten.de erstellt. Willst du auch eine eigene Webseite?
Gratis anmelden