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In feuchter Erwartung
Kinderschänder
Unverhofft
Mahlzeit!
Ich bestimme die Welt!
Friedhof
 

Ich bestimme die Welt!

Eben noch zusammengesackt in der gebuckelten Haltung eines Fragezeichens, wobei der untere Punkt mein in
die Hose gerutschtes Herz ist – fahre ich in die Höhe und stehe aufgereckt wie ein Ausrufezeichen da, aber ein
umgekehrtes, denn mein Herz ist mir plötzlich zu Kopfe gestiegen und leuchtet wie ein i-Punkt mit der
aufblitzenden Idee: So kann es nicht weitergehen!
Ich muß mich ermannen, hämmert es in mir, und ich marschiere, stramm wie ne Eins, durchs Zimmer. Die
Rechte wie Napoleon ins Hemd geschoben, skandieren die trommelnden Finger meinen Herzschlag, und
meine ins Kreuz gedrückte Linke lockert und ballt sich: So nicht!
Etwas in mir hat sich verdreht oder besser vom Kopf auf die Füße gestellt, hat meine Dumpfheit gesprengt, als
hätte ich eine Schallmauer durchbrochen. Wie krummgeschlossen bin ich herumgekrebst, immer im Kreis,
und bums, der Einschlag meiner Erkenntnis: alles ist falsch – eine Offenbarung, die mich so sehr verändert,
daß ich nicht mehr zurück kann.
Ich bestimme die Welt!, orgelt es in mir, und getrieben von einem inneren Drang, verlasse ich die Wohnung
mit meinem Badehandtuch. Ich bestimme im doppelten Sinne: sage, wo’s langgeht, und erkläre die Welt. Ich
lasse mich nicht mehr bevormunden, weder im Denken noch Tun.
Im Ramsch an der Kreuzung laufe ich durch die Gänge und krame in billiger Unterwäsche und
Oberbekleidung – keine Badehosen darunter.
„Ausverkauft“, sagt die Verkäuferin, und ich schrumpfe, kippe mit den Schultern nach vorn. „Höchstens noch
für Knaben, Größe 162“, fährt sie fort und zeigt mir eine Hose mit Batikmuster und halblangen Beinen – her
damit!
Ich steuere auf die Umkleidekabine zu: ratsch, schließt sich der Vorhang in aufstiebenden Falten, und meine
Hose rutscht mit Ziehharmonikabeinen auf meine Knöchel. Ich ziehe den Bauch ein, schlängele mich ins
Stoffutteral – Halt, da hat was geknackt! Weiter, und der Stoff flutscht über die Rundung. Doch wie krieg ich
den Arsch wieder raus, ohne das Ding zu zerreißen?
Vorsichtig zupfe ich an den Beinen, während der Bund sich bis zum Äußersten spannt, denn mich packt eine
Erregung bei dem Gedanken, in der Haut eines Vierzehnjährigen zu stecken (Größe 162). Ah, diese Enge:
meine Schwellung nimmt dem Stoff den letzten Spielraum, den ich brauche, um ihn runterzupellen. Warten –
dann streife ich ihn mit Ach und Krach über die Wölbung.
„Zahlen!“ - Die Verkäuferin guckt so komisch, und ich starre zurück. Da senkt sie den Blick – Sieg, und ich
verlasse grinsend den Laden.
Hä? Die Treppe zum Hallenbad ist übersät mit Hausaufgaben machenden Schülern, hingefläzt auf den Stufen,
inmitten von Heften, Ranzen und Büchern. Wie soll ich da durch? Ich mache kehrt – nichts da, und drehe
mich wieder um. Lachen sie über mich? Nee, sie beachten mich gar nicht, und ich gehe zaghaft hindurch. Sie
rücken bäuchlings zur Seite, mürrisch, mit angewinkelten Beinen.
Hübsche Jungen in Markenklamotten: Nike, Reebok, Adidas, Puma – nicht so ein Billiggelumpe wie meine.
Wie müssen sie erst in Badehose aussehen? Und ich sehe mich, wie ich lächerlich, eingequetscht in Größe 162
mit Batikmuster, unter den halbwüchsigen Göttern herumwatschele oder häßliche Arschbomben und
Bauchklatscher mache, während sie elegant wie Delphine ins Wasser eintauchen.
Fast wäre ich gestürzt – in offene Arme? Wohl eher in Hiebe und Tritte. Ein Lockiger blinzelt genervt, und ich
lächle entschuldigend. Da verzieht er den Schmollmund, macht eine Fresse, und in mir keift eine tantenhafte
Empörung: was erlaubt sich der Bengel!
Hoppla. Übersprunghandlung in zweifacher Hinsicht: ich springe fast auf ihn und in die Rolle des Clowns –
Stolpern eines Hanswursts oder Besoffenen, und er ist irritiert, zieht den Kopf ein. War doch nur Spaß,
signalisiere ich und spiele auf einmal den Coolen, hüpfe an seinen Füßen vorbei, die er einzieht, und
balanciere gekonnt auf den Stufen: totale Körperbeherrschung, demonstriere ich – alles unter Kontrolle, mein
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Kleiner.
Er schluckt, als wollte er sagen: Mann, hast du mir einen Schreck eingejagt! Klar, ich bin einer deiner
abgewichsten Rapper-Idole – fehlt nur noch, daß wir uns in die Handflächen klatschen: alles klar, Alter? Ich
stolziere wie ein Leinwandheld zur Eingangstür. Rappeln – Scheiße, geschlossen, und ich drehe mich um.
„Links durch den Nebeneingang“, sagt der Junge – aha, und ich tippe an meinen imaginären Stetson.
Gesperrt!, steht da nicht bloß auf den Schildern – auch der Durchgang ist mit Ketten verhängt. Links die
unbesetzte Kasse, dahinter ein Durchblick ins Hallenbad mit dem himmelblau leuchtenden Becken, voll mit in
abgeteilten Bahnen schwimmenden Schülern.
Ich rufe – keine Antwort, wage mich vor, ducke mich unter der Sperrkette hindurch, gehe zum Ständer mit den
Prospekten, lese in einem und begreife: dies ist kein öffentliches Stadtbad mehr, sondern nur noch für die
private Nutzung von Schulen und Schwimmvereinen. Also warten die auf der Treppe, daß die im
Schwimmbad fertig werden, denke ich und trete den Rückzug an, kein bißchen cool mehr.
Wie komme ich bloß die Stufen hinunter? Unsicher stapfe ich durch die sich lümmelnden Kinder, die mich
ignorieren, was mir einen Stich gibt. Mir knicken die Beine ein, als hätte man mir einen Handkantenschlag in
die Kniekehlen gegeben. Mich einfach unter sie fallen lassen, verkindschen, in ihre Welt eintauchen, wieder
vorlauter Pennäler sein, mir ein Rechenheft schnappen, Algebraaufgaben für Vierzehnjährige, Größe 162, und
englische Vokabeln – ach, wie der Lockige grinst!
„Junger Mann, Sie haben was verloren“, sagt eine Alte, die mit ihrem Rollator herankommt und zeigt auf den
Prospekt, den ich fallengelassen habe. Ich hebe ihn auf, nicke zum Knittergesicht und vertiefe mich blätternd
darin: will nicht mit der auf ihre Gehhilfe gestützten Alten bei Grün über die Ampel gehen. Da wackelt sie wie
ein Insekt auf zwei eigenen und vier Ersatzbeinen, behindert und krumm.
Kölnbäder, lese ich. Die Hallenbäder sind mit einem blauen Kreis, die Kombibäder mit einem roten Dreieck
und die Freibäder mit einem grünen Quadrat auf der Stadtkarte markiert. Naturfreibad Fühlingen – das ist es!
Die Oma hat die andere Seite erreicht, bleibt aber an der Bordsteinkante hängen, schafft es nicht, die Räder
vom Rinnstein auf den Gehweg zu heben, obwohl der Verkehr wieder aufbraust und sie ein Hindernis bildet.
Hupen im Stau auf der Rechtsabbiegerspur, auf der die Alte insektenhaft zappelt, und gestikulierende Fahrer.
Ich hasse es, immer den Hilfsbereiten zu spielen, bleibe stehen und sehe, wie sie endlich die Bordsteinklippe
in der Verkehrsbrandung erklimmt und davonwackelt. Erst dann gehe ich über den Zebrastreifen – bei Rot. Ich
lache in aufgerissene Fratzen: zähnestarrende Löcher hinter Windschutzscheiben, und wedele mit dem
Prospekt – auf nach Fühlingen!
Mit federnden Schritten gehe ich zu meiner Fahrradbox, schwinge die krietschende Stahltür auf, packe das
silbrige Aluminiumroß am Geweih und überprüfe den Druck seiner runden Sohlen: pralle Gazellenzwillinge.
Dann spurte ich, eine kraftvoll hüpfende Feder, die Stufen zu meiner Wohnung hinauf und packe CD-Player,
Buch und Wasserflasche in meinen Rucksack.
Heidi!, gebe ich meinem rollenden Zossen die Sporen, trete ihm in die Kurbel, lache über den stinkenden
Autoverkehr und rufe: „Ich bestimme die Welt!“
Lange habe ich meine Muskeln nicht so vibrieren gefühlt. Ich, Stahlfeder auf einem Aluminiumroß, reite
durch Abgasgestank – hü!, trete ich ihm in die Weichen und biege rechts ab. Ich rattere über die Schlaglöcher
im schadhaften Weg, wie auf Vollgummi zwischen den Gattern eines Pferdehofes hindurch. Dessen
Gülleabwässer hatten den Fühlinger See in eine Kloake umkippen lassen, damals, als ich noch wild badete,
um keinen Eintritt zu zahlen – in ständiger Angst vor der berittenen Polizei.
Heute dreht sie ihre Runden im Auto, und mein Widerstand gegen die Staatsgewalt erwacht plötzlich wieder:
nicht aus Geldmangel will ich illegal schwimmen, sondern aus Trotz! Aber erstaunlich: der Strand im
Naturfreibad, jenseits des Maschendrahtzauns, ist menschenleer. Dafür knubbeln sich Sonnenanbeter auf der
Fläche davor: eine Mischung aus Sand und Rasen mit leckender Wasserzunge.
Spätsommerlich knallt die Sonne herunter, und ich schwitze – hinein in das kühlende Naß! Doch hier gibt’s
keine Umkleidekabinen. Immer noch habe ich diesen Keuschheitsreflex: mein genantes Getue, wenn ich mich
öffentlich umziehen soll. Pinkeln müßte ich auch – ich verschieb es auf später, heimlich im Wasser. Gott, bin
ich verklemmt – das Kleinkind da drüben watschelt ja auch splitternackt durch den Schlamm.
Umständlich wurschtele ich mich, eingewickelt im Handtuch, aus den verschwitzten Klamotten und winde
mich dann in das Stoffutteral mit Batikmuster. Mist, ich komme nicht rein und zappele wie ein Fisch auf dem
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trocknen. Lächerlich, das verdrehte und rutschende Tuch: dämliches Feigenblatt aus Frottee, und ich lasse es
fahren, halte mir schnell eine Hand vor und zerre mir mit der anderen diesen Kinderkondom (Größe 162) über
das Unzeigbare. Puh, und ich blicke mich um: kein Streifenwagen stoppt mit quietschenden Reifen – nicht mal
Oma und Opa mit dem Nacktschneckenenkel haben mich wahrgenommen.
Eingequetscht wie eine Wurst in platzender Pelle, trippele ich über sandigen Rasen oder rasigen Sand,
brillenbewehrt, denn ich muß meine Sachen im Auge behalten. Wo ist nur mein Selbstvertrauen geblieben?
Immer dieses Gefühl, einen Fehltritt zu tun – trete wieder mal fehl, auf ein Steinchen, und humpele weiter.
Dann das schockkühle Wasser, das ich strampelnd zum Gischten bringe.
Ich will den Hosenstoff zum Pinkeln herunterstreifen, aber vergeblich: mit den Händen beschäftigt, muß ich
froschartig die Beine bewegen – sonst saufe ich ab, und das hindert mich, mein Wasserpistölchen
herauszuziehen. Unten durch geht es auch nicht: die halblangen Hosenbeine umspannen die Schenkel wie eine
zweite Haut. Soll ich durch die Stoffwand strullen? Ich verkneife mir’s lieber und kraule, ein
schaumpflügendes Walroß, durch das seidige, flaschengrüne Wasser, das mich umkost und überall leckt.
Ich schwimme hinaus in den wellenschlagenden, glitzernden Spiegel und blicke zum Ufer: mein Rad grüßt
blinkend herüber. Jetzt prallt ein Gummiball von ihm ab und springt dem Jungen, der ihn geworfen hat, zurück
in die Arme.
Quecksilbriges Element, das ich mit meinen Schwimmzügen streichle, was es schwappend erwidert. Sanft
krault es mein Kinn und fährt mir manchmal übers ganze Gesicht. Ich reite auf seinem reflektierenden Rücken
und jodle – es hört mich ja niemand.
Vor mir, stolz-elegant, kreuzt ein Schwan meine Bahn. Er kippt kopfüber ins Wasser und ist nur noch ein
spitzwinkliges Dreieck mit paddelnden Füßen. Hei, Lohengrins Zugtier – oder auch schwanener Zeus:
verwechsle mich bloß nicht mit Leda! Aufgebläht und fregattengleich gleitet er über das flüssige Flaschenglas.
Erhaben reckt er den Kopf: seine Halssäule, wie von der Schneeigkeit griechischen Marmors, deutet ein
gestrecktes Fragezeichen an. Jetzt dreht er ab und segelt gravitätisch davon: weiße Gondel, wattig wie die
Schäfchenwolken am Himmel – bald sieht er aus wie ein Blütenblatt auf dem Quecksilberspiegel. Von dem
springen mich Sonnenreflexe an: blendende Sicheln. Ich verteile goldene Spritzer und halte ermüdet aufs Ufer
zu.
Schlingpflanzen schnappen nach meinen Beinen: Algenstrippen unterseeischer Angler. Ich trete mich frei,
erreiche rettenden Boden, ramme die Fersen in den feinkörnigen Sand und verschnaufe. Die Oberfläche des
Sees liegt wie eine riesige Krause um meinen Hals. Jetzt, wo ich stehe, kann ich die Hose herunterpellen, und
ich ziehe meine Wasserpistole heraus.
Ein älterer Herr mit Haar wie Schwanengefieder und einem Schildkrötengesicht schwimmt auf mich zu. Schon
will ich mein eingeschrumpftes Minigemächt wegstecken – da besinne ich mich und pisse: ah! Wird nicht der
Strand überflutet von meiner gigantischen Notdurft, eines Gargantua würdig? Oder spürt der schlohweiße Herr
meine warme Strömung? Jedenfalls biegt er ab, und ich, um Gallonen erleichtert, hechte mich bäuchlings ins
Wasser.
Ich gleite am Ufer entlang, bin ein in den Untiefen auf Beute lauernder Hai: lüstern auf Fleisch, aber frisches –
nicht scharf auf lederne Echsen wie dieser schrumplige Alte.
Planschende Kinder im seichten Gewässer, das braun ist vom aufgewirbelten Sand. Ihre Schreie schwirren wie
akustische Messer: Pendant zu den blitzenden Sonnenreflexen. Braun sind auch die Leiber der Kleinen: süß
wie Schokoladenüberguß – laßt mich probieren, ihr Engel! Sogar Flügelansätze haben sie: flatternde
Schulterblätter im wilden Getobe. Doch ihr Schrillen treibt mich zurück und unters Wasser, wo ich die Brille
festhalten muß – dumpf dringen die Laute zu mir.
Ich fahre aus der trüben Unterwelt: schaumgeboren – jedenfalls flocken Gischtzungen umher. Aber ich bin
keine Athene, sondern ein Seeungeheuer im Nixenteich, richtiger: ein Fuchs im Hühnerstall – für die Mütter:
wachsame Glucken, die ihre Küken bei meiner Schaumschlägerei unter ihre Fittiche gackern.
Zurück in das tiefere Wasser: still wie ein Baumstamm liege ich da. Doch man hält mich wohl für ein
heimtückisches Krokodil – jedenfalls bleiben die Kinder mir fern.
Ich lurche mich – schleiche mich auf amphibisch, schlängele mich von dannen, gebremst vom zäh mich
umfließenden Glas, schwimme dann wieder mit der opalenen Krause des Sees um dem Hals und verschlucke
mich, spucke Quecksilber aus.
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Leise plirrt Kindergeschrei an mein Ohr: klimperndes Glasperlenspiel. Ich nähere mich gemächlich dem
Strand, bin ein Kriechtier im Wasser, dessen Kielspur verwischt, und steige schließlich an Land. Schwer muß
der Übergang vom Wasser- zum Landlebewesen gewesen sein: ich spüre das Tonnengewicht beim Austritt aus
dem Seeuterus und stehe dann triefend am Ufer – ein herausgefischter Hans Guckindieluft.
Sonnenlichtzwinkerndes Rad: hallo, metallicschimmernder Schimmel. Ich rubbele mich ab und streife das
Unterhemd über, das mich umflattert: eine weiße Fahne, als kapitulierte ich vor dem Feind, der mich umlauert
– da guckt eine Mutter mißtrauisch her! Ich wringe die mühsam heruntergezerrte, klitschnasse Hose aus und
schwinge die Hüften in meiner minirockknappen Baumwollglocke. Sie wendet sich ihrer Kinderschar zu:
zappelnd und nackt wie ein Wurf quiekender Ferkel.
Dämliche Kuh, denke ich, trockne mich unterm Röckchen ausgiebig ab und tu so, als mache ich Striptease.
Ein Nackedei zeigt auf mich und klatscht in die Patschhändchen.
Simsalabim!, lupfe ich das Hemd und stehe in Unterhose da – na, war das ein Zaubertrick? Sogar die Mutter
lacht, und das Mißtrauen ist nun bei mir: was, wenn ihr Blick mich nicht als Perversen, sondern als Mann
meint?
Ich übersehe das Gestikulieren der Kinder, die mehr von mir Hampelmann vorgeführt haben möchten, und
hole meinen Discman hervor.
Ludwig von Beethoven – für mich von, nicht van: er ist ein echter Aristokrat, von wirklichem Adel, und kein
Talmi wie die blaublütigen Snobs. Erstes Razumowsky-Quartett: hört sich, russisch an, düster, und ist doch
hell, inspiriert wie vom See – Cellobögen der Wellen, und darüber die Lichtreflexe des Geigengeglitzers.
Jetzt schwimme ich nicht mehr im Fühlinger, sondern im Klangsee: jeder Ton schwingt in mir nach, als sei ich
ein Klangkörper, der das Akustikgeflecht in Gefühle umsetzt, und ich dümpele ausgestreckt, sanft umflossen
von Streicherwellen, die mein Gewicht aufheben, als sei ich ein Holzstück im Wasser...
Plötzlich steht ein kläffender Köter vor mir. Seine Reißzähne blitzen wie Elfenbeindolche, umstarrt von
krausem Fell wie ein störrischer Vollbart. Er jagt davon, mit aufstiebendem Sand, der mir ins Gesicht spritzt,
und umspringt dann schwanzwedelnd sein Frauchen, das ihn anleint und fortzerrt.
Herausgerissen aus meiner Trance, beobachte ich einen Lockenkopf der zu einem kleinen Jungen gehört, der
wieder zu einer Frau gehört. Walroß!, fällt mir bei ihrem Anblick ein: Mutterkuh, und ich grinse
entschuldigend, als hätte ich es laut gesagt.
Sie grinst zurück, und weil sie das tut, grinst der Junge jetzt auch: dreimaliges Grinsen – zu komplex zum
Analysieren. Die junge Frau hat trotz ihrer heillosen Verfettung einen Rest sinnlicher Schönheit bewahrt.
Als ich Musik hörte, müssen sie hinzugekommen sein. Sie ist schon im Badeanzug – rosaroter Einteiler, und
zieht den Jungen aus: braungebrannt, anmutig, zart. Seine Schmächtigkeit im Kontrast zu ihrem ungeheuren
Volumen. Trotzdem wirkt sie nicht plump, sondern elefantös graziös, wenn das Paradox erlaubt ist.
Ihr Tonnengesäß und sein Kinderpopo: ach, dieses Pöchen! Zellulitis hat sie an den Schenkeln, von denen
jeder doppelt so dick ist wie der ganze Junge. Der hampelt nackt herum. Sie versucht ihm ein Höslein
überzustreifen: rührend klein im Vergleich zu dem Zelt, in dem sie steckt.
Ich spüre so etwas wie Eifersucht, ein Gemisch widerstreitender Gefühle: Sympathie kippt in Aversion um
und umgekehrt. Ich möchte den aus dem verdrehten Stoff guckenden Knabenpo zwicken und streicheln, und
die Frau widert mich an und erregt mich: will mich an sie schmiegen und ihr in die Titten beißen – ich bin
doch bekloppt!
Jetzt ist der Junge mit Plastikeimer und Schippe beschäftigt. Nicht weit von ihm spielen zwei Mädchen,
blonde Zwillinge, die eine mit hüpfendem Pferdeschwanz und die andere mit offenem Haar, das ihr glatt bis
auf die Schultern herabfällt. Ihre Haarspitzen tanzen auf den vorstehenden Schlüsselbeinen mit der niedlichen
Drosselgrube in ihrer Mitte.
Ich bin entzückt und fühle mich plötzlich zu Hause, bin bezaubert von ihrem Gelächter – und dann wie vom
Donner gerührt: sie rüsten zum Aufbruch! Da hüpftraben sie heim, und ein Druck breitet sich in mir aus, wie
das Gewicht einer wachsenden Kugel, die mich von innen nach außen, zuletzt in den Ufersand drückt, auf dem
ich äußerlich unversehrt hocke.
Wieder ein Lachen: das von Halbwüchsigen, stimmbrüchig und krächzend, häßlich im Vergleich zu den hellen
Kinderstimmen.
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Häßlich? Nein, anders. Ich urteile aus meiner Abwehr heraus – geil wäre der richtige Ausdruck! Aber ich
nehme die drei Jungen verzerrt wahr, denke: Gewieher!, und beobachte neidisch ihr Spiel.
Sie werfen sich einen aufgeblasenen Ball zu. Er landet im Wasser, wird von der Strömung davongetrieben. Sie
planschen ihm nach. Der Zaun zum Naturfreibad stoppt das bunte Plastikding. Dort ist ein Hund festgebunden.
Er bellt in das Jungengeschrei und erwürgt sich fast.
Mich stört der Lärm: dieses Gebrüll von Pubertierenden – wären sie wenigstens anmutig wie die
entschwundenen Mädchen!
Zwei Jungen haben zuviel Speck auf den Rippen: ekelhaft, wie das wabbelt. Gut, daß sie fett sind: gibt meiner
Abneigung Auftrieb. Und der dritte ist vielzu dürr. Seine Rippen zeichnen sich scharf unter der Haut ab, die
bleich ist im Vergleich zum Spanferkelrosa seiner Kameraden.
Sie wirbeln das Wasser auf und fausten sich den Ball zu. Der fliegt jetzt über den Zaun und schwimmt hinaus
auf den See. Denis, der Dünne, springt hinterher, umschwimmt die Absperrung und krault mit
Armbewegungen wie ein Schaufelrad. Die Zurückgebliebenen klatschen abwechselnd in die Hände und aufs
Wasser, wobei sie skandieren: „Denis, du schaffst es!“
Er schafft es wirklich: weit draußen, wo sein blonder Kopf nur noch ein hellbrauner Punkt auf der grüngrau
geriffelten Oberfläche ist, erreicht er den bunten Punkt und boxt ihn vor sich her – als hüpfe ein knallbunter
Floh übers Wasser.
Zurück, jubeln ihm die Freunde zu. Sie stellen sich zu einem Dreieck auf und schmettern krakeelend den Ball
hin und her: jeder Fausthieb ein Bums, und ich wünsche mir Pfeil und Bogen, um das Plastikding, plöff,
abzuschießen!
Wütend fahre ich in meine Klamotten. Die Badehose mit Batikmuster „vergesse“ ich einfach: paßt mir ja doch
nicht. Aber wo sind denn auf einmal die Jungen? Weg, und ich überlege, zu bleiben. Da wird mir bewußt, daß
mich erst ihr Verschwinden wirklich vertreibt.
Frustriert schließe ich mein Rad auf. Tschüß, und ich trete in die Pedalen – da sind ja die Jungen! Ich bremse.
Der Ball ist jetzt platt, eine bunte Plastikschale im Sand zwischen ihren Sachen.
Sie ziehen sich um und stehen, die Badehosen auf die Knöchel heruntergerutscht, im Minirock ihrer
umgeschlungenen Handtücher da – bei den Dicken eher ein Schurz, der nicht reicht, die Blöße ganz zu
verdecken. Ich steige vom Rad: was habe ich vor?
„Ich bestimme die Welt!“ brumme ich. Etwas ergreift mich und macht mich so leicht, daß ich zu schweben
vermeine. Ich gehe direkt auf die Jungen zu.
Wackelpudding, denke ich angesichts der beim Hüpfen zitternden Brüste der Dicken und Knochengerippe
beim Anblick des Dünnen: um sie mir madig zu machen – aber sie faszinieren mich trotzdem.
Blockade. Ich bleibe wie angewurzelt stehen und hebe den Blick, hinaus auf den See: vorhin hing er mir wie
eine Riesenkrause am Hals und jetzt wie ein Mühlstein, der mich hinabzieht, nein, vorwärts – wieder zögernde
Schritte.
Ich bücke mich langsam und sammle die Sachen der Jungen ein. Sie gucken verdattert. Ich klemme sie unter
den Arm und schiebe mit der freien Hand mein Rad neben mir her. Die Ölgötzen rühren sich immer noch
nicht. Traumwandlerisch sicher entferne ich mich.
„He, was soll das!“ ruft mich ein Mann an, der auf einer Grasinsel hockt. Ich ignoriere ihn, drehe mich um und
winke den Jungen. Wie auf Kommando stolpern sie los, fallen über die Fußangeln an ihren Knöcheln,
verlieren ihr Handtuch und strampeln im Sand. Sie befreien sich und laufen mir nackt hinterher – oh, dieser
Anblick!
Hastig werfe ich dem Mann am Boden die Klamotten der Jungs in den Schoß und ergreife die Flucht.
„Feigling!“ rufe ich mir zu, bremse und wende. Die Jungen bedecken sich mit ihren Bündeln. Sie stehen um
den Mann, der aufgestanden ist, gestikulieren und zeigen in meine Richtung – sinnlos, umzukehren: ich wäre
geliefert!
Aber ich komme zurück, verspreche ich mir. Eben noch zusammengesackt, in gebuckelter Haltung, recke ich
mich und denke an die entblößten Leiber – eine Offenbarung, die in jeder Muskelfaser nachklingt.
Immer noch fuchteln die Jungs mit den Fäusten zu mir her. Ich werfe weitausholend Kußhände zurück. Der
Mann scheint sein Handy hervorgeholt zu haben: er hält sich eine Hand an die Wange – Scheißkerl!
Ich nehme den Pfad durch unwegsames Gelände, hubbele über Stock und Stein. Hier findet mich niemand,
aber ich habe die Jungen vor Augen – wartet nur: ich finde euch, denn ich bestimme die Welt!
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(c) 28.02.2009 10:19 von Kasper Grimm
Weitere Texte finden Sie unter http://www.leselupe.de
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