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Die Sonne


Schon das Aufziehen der goldenen Uhr ist ein Genuß für mich. Dieses Gefühl, wie Zacke in Zacke greift und im Innern des Metallkörpers Zahnrädchen in Bewegung gesetzt werden, ausgelöst durch die Drehung der Krone zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, und meine linke umschließt den erst kühlen, dann auf meine Körperwärme temperierten glatten Leib: so glänzend, und es geht mir durch und durch, spüre ich dieses weichströmende Ineinanderrasten feinster Stahlzähnchen in den Fingerspitzen.

Sonne nenne ich die uralte Taschenuhr: rund und strahlend wie ihre Namenspatronin, die Sternenkönigin am Himmel, und sie hat sogar eine Krone, einen geriffelten, zwiebelförmigen Knopf, umrahmt vom schwenkbaren Haltebügel wie von einem Heiligenschein. Den biege ich jetzt zurück, um auf das Krönlein zu drücken: schwups, springt der güldene Deckel auf, und die Sonne lacht mich mit ihrem schneeweißen Emailgesicht an. Es zieren strenge römische Zahlen im Kreis, und zwei üppig verschnörkelte Zeiger aus blankem Gold umrunden es. Unten ist noch ein Gesichtlein im Uhrenantlitz, in dem ein viel emsigeres Zeigerlein in die Runde hastet: ein unermüdliches Pferdchen, das den trägen Minutenzeiger im Schlepptau hat, der wiederum den noch viel langsameren Stundenzeiger nach sich zieht – als könne sich jeder nur durch das Beispiel seines Vorläufers bewegen, und der ganz kleine Sekundenzeiger scheint durch den galoppierenden Herzschlag der Uhr angetrieben zu werden, diesem hastigen Ticken, silberhell im Kontrast zu dem satten Goldglanz ihrer sanftgeschwungenen Hülle aus Edelmetall.

Schwer und kieselsteinglatt ruht die Sonne in meiner geöffneten Hand: mit zurückgeschnapptem Goldvisier – in seiner Innenseite spiegelt sich ihr makelloses Gesicht. Sie erzählt mit pickendem Ticken ihre Geschichte – oder denke ich sie mir nur aus? Jedenfalls überströmt mich eine Bilderflut: eine schwarze Samtfläche, darauf Edelsteine gestickt, die nur so gleißen und glitzern, angestrahlt von einer kreisrunden Goldmedaille, nicht flach, sondern mittig gleichmäßig gewölbt – stromlinienförmiger Bauch, in dem das tickende Weltenherz schlägt.

Jetzt greift Gott in das Geschehen ein und pflückt die Sonne von ihrer schwarzsamtenen Fläche. Er läßt sie ins extra dafür angefertigte Hosentäschchen unterm Kugelbauch gleiten, und da guckt nur noch ihr Heiligenschein heraus, der an einer goldenen Kette befestigt ist: sie mündet nach einem hängenden Bogen in einen Goldkopf mit Fangzahn, der sich in Gottes höchsteigener Gürtelschlaufe verbeißt.

Bei aller Auszeichnung, die ihr dadurch widerfährt, fühlt sich die Golduhr in ihrem neuen, seidengefütterten Gefängnis nicht wohl: wie kann sie denn hier ihr Visier auf- und zuklappen und herausblitzen ins finstere All, das mit schwarzem Samt ausgeschlagen ist, damit ihr Glanz umso gleißender strahlt? Nein, sie ist nun die Sklavin ihres Diebes, der allein bestimmt, wann sie zu glänzen und zu verschwinden hat: etwa alle zwölf Stunden holt Gotträuber sie hervor und ergötzt sich an ihrem goldenen Anblick. Aber dann steckt er sie für Stunden wieder weg, um seine Augen zu schonen – die Abstände schwanken, und daraus ergibt sich der Jahreszeitenzyklus.

Unzufrieden wie Luzifer einst, ihr grellstes Geschwister, auch Morgenstern oder Venus genannt, und ebenso ungehorsam gegen den Weltenbeherrscher, entschlüpft sie seinen plumpen, besitzergreifenden Fingern und stürzt hinab in die endlose Tiefe. Dabei erfaßt sie ein Orkan des Grauens, und der heißt dann Orkus. Sie stürzt also immer weiter hinab und würde in tausend Universen zerschmettern, wenn nicht ihre Gefängniswärterin, die goldene Kette, sie hops! beim Heiligenschein gefaßt und zurückgehalten hätte.

Da schlottert und zappelt die strahlende Ausreißerin in absoluter Leere: so höllendunkel, daß selbst ihr Funkeln zu einem Funzeln herabgedimmt wird. Gott, der sich erst mal einen Popel aus der Nase bohrt und ihn wegschnippt (das ist die Entstehung der Erde) überlegt, was er mit seiner goldenen, aber aalglatten Dienerin anfangen soll. Darüber vergehen einige Milliarden Jahre: eine Zeit, die das Leben nutzt, sich über die Oberfläche seines Popels auszubreiten.

Als die Entwicklungen bis ins Menschenzeitalter, genauer, ins neunzehnte Jahrhundert gediehen sind, kommt Gott zu einem Entschluß: die noch immer in ewiger Finsternis baumelnde Uhr soll auf die in hektischer Blüte stehende Erde verbannt werden. Doch weil sie so hübsch ist, soll sie nicht als Nugget in ihr vergraben werden. Vielmehr schenkt er sie einem von seinen Gnaden herrschenden Regenten: so gelangt unsere güldene Abenteurerin in die königliche Schatulle, ebenfalls mit Samt und Seide ausgeschlagenen – sie gehört dem Despoten über ein Zwergenland, das sich anmaßt, die Riesenreiche um sich her zu unterwerfen.

Der Größenwahn ihres neuen Besitzers bringt natürlich Krieg und Verwüstung mit sich. Dabei geht alles drunter und drüber. Das Schmuckkästchen des Herrscherhauses wird auch nicht verschont: es gerät, bildlich gesprochen und weil es ziemlich groß ist, als Schatzkiste in Seenot und dümpelt auf den Zeitmeeren der Geschichte dahin – bis ein gewitzter Trödler sie eines Tages herausfischt und sichtet. Er repariert und poliert ihren heruntergekommenen Inhalt und verhökert ihn dann in seinem Kramladen. Ein Wunder, daß unsere Taschenuhr in ihrem goldenen Bäuchlein alsbald wieder tickt: der Altwarenhändler hat ihr stockendes Herz instand gesetzt – zieh sie nur auf, und du wirst ihr Trippeln wie in Stahlschühchen hören! Sogar ganz präzise geht sie wieder: ist sie auch ungehorsam gegen Gottvater gewesen, so ist sie doch aus edlen Metallen gefertigt, und sie schuldet es ihrer Brünne aus lauterem Gold, ebenso lauter Zacke in Zacke einrasten zu lassen – zwirble nur tüchtig ihr Krönlein, und sie steht in so federnder Spannung, daß sie die Zeit pur wie sie selber aus sich herausspinnt!

Sie gelangt nicht gleich in meine begehrlichen Hände, bin ich doch arm und auch damals noch gar nicht geboren. Kostbar und herrlich, durchwandert sie erst mal seidengefütterte Uhrentäschchen neureicher Bürger – bis es Alternativen gibt auf dem Sektor der Chronometer: Quarz-, Digital- und Funkuhren, gegen die unsere Taschenuhr völlig aus der Mode gerät. Wäre ihre Legierung nicht so hochkarätig gewesen, hätte sie wohl einen zweiten Höllensturz in eine Mülltonne erlitten und ihn nicht überlebt.

So aber geschieht es, daß ich mit meinem schmalen Gehalt in der Lage bin, sie zu ersteigern: bei Ebay im Internet, eine neue Erfindung. Das kostet mich zwar ein Vermögen, und ich muß drei Wochen auf manches verzichten – doch ihre Vollkommenheit ist es mir wert.

Nun liebkose ich ihre güldene Rüstung mit plumpen, besitzergreifenden Fingern, und sie entschlüpft mir nicht wie damals dem Weltenbeherrscher, weiß meine Liebe zu schätzen: vielleicht ist sie lieber die Sonne eines glühenden Verehrers als die Dienerin eines kalten, selbst göttlichen Herrn.


http://de.youtube.com/watch?v=Dd9x9MfG3U8


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