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Zu Arno Schmidt

Arno und Alice Schmidt warten Arno und Alice Schmidt warten auf einem Bahnsteig, dessen Ortsschild am Fachwerkhäuschen im Hintergrund nur halb zu lesen ist: „...den“. Ahlden? Vorn, halb im Schatten zweier Bäume, sie in einem Kostüm mit weißem Kragen, heller Knopfleiste und eckiger Schulterpartie, eng tailliert. Die Schöße des Jacketts sind faltig gebauscht durch die Hände in den Seitentaschen. Der Rock fällt bis zu den Waden gerade herab. Ihre Schuhe mit den Knopfabsätzen verbinden ihren verkürzten Schatten mit dem Schattensee der Bäume, der sich auch mit dem ihres Mannes vereinigt. Er steht rechts: feste Schuhe – poliertes Oberleder. Die Bügelfalten seiner schwarzen Hosenbeine sind in Kniehöhe leicht ausgebeult und zerknittert. Offene, helle Jacke mit großem Revers. Er hält die Hände hinten verschränkt und den Rücken etwas vorgeneigt: schräger Hals im offenen Hemdkragen. Zurückgebürstetes Haar, gewellt, fast lockig, das in Geheimratsecken zurückweicht. Spiegelnde Kopfhaut, verwischt im Grau der Schwarzweißfotografie. Der linke Hintergrund liegt im grellen Sonnenlicht: typisches Flachland. Die Gleise verschwinden ins Überbelichtete: zwei weiße, parallele Striche auf kaum sichtbarem Schotterbett. Eine Weiche biegt rechts ab zum Schuppen, einem hellgrauen Dreieck im gleißenden Himmel – davor dunklere Rechtecke und Quadrate: Fahrzeuge, Kästen, Holzstapel im Glast. Ich meine die Hitze zu spüren, das ausgeschwitzte Harz zu riechen: glitzernde Tröpfchen an den Sägequerschnitten – und spüre ein Fernweh nach ländlicher Vergangenheit.

 

                                      *

 

Arno Schmidt blickt in sein Manuskript Arno Schmidt blickt konzentriert in sein Manuskript, ein DinA3-großes Heft in festem Pappdeckel mit nicht zu entzifferndem Etikett, aufgeschlagen in seinem Schoß. Er lehnt sich an die Seitenwand der überdachten Terrasse und hat die Beine auf der Brüstung ausgestreckt. Der oberste Hemdknopf ist offen. Sein Kopf ist im Profil zu sehen und vorgeneigt. Kinn und Wange sind von zwei tiefen Furchen wie mit einer Doppelklammer verbunden, die ihm etwas Strenges und Markantes geben. Dazu trägt auch die dunkle Hornbrille bei: dicker Bügel zum Ohr, dessen obere Rundung verdeckt ist vom lockigen Haar, schon angegraut, glänzend. Es ist aus der hohen, gerunzelten Stirn zurückgekämmt und über den Schläfen gelichtet: zwischen Haupt- und Seitenhaar bleibt ein ebenfalls glänzendes Hautdreieck frei, das die glatte, helmartige Schädeldecke betont, die auf den Wülsten über den Augen zu ruhen scheint. Die Brauen verschmelzen mit dem klobigen, dunklen Brillenrand. Darunter springt, hell vor dem schattigen Bretterhintergrund, die gerade Nase hervor: kompakt, schimmernd, rund am Ende. Sie drückt mit dem ebenfalls runden, hell vorspringenden Kinn und der eingekerbten Falte am Mundwinkel einen starken Willen aus. Jedenfalls ragt für mich ein Autor, der ein solches Werk geschaffen hat, wie ein erratischer Block aus der Landschaft, zumal in einer auch geistig flachen Gegend. Immerhin hat er „Zettels Traum“ aus sich herausgewuchtet, eine titanische Tat, widrigen Umständen abgerungen, unbeirrt und rücksichtslos gegen sich selbst – aber hätte er die Arbeit sonst zustande bringen können?

 

                                      *

 

 

Umsiedler Arno Schmidt Ich habe sie wieder vor Augen, die Geflüchteten, die alles zurückgelassen haben, hin- und hergeschobene Menschen, die an einen verlorenen Krieg erinnern: Altlast eines Größenwahns, die der kollektiven Verdrängung im Wege steht. Keiner will die Vertriebenen haben, wodurch sie noch zusätzlich gedemütigt werden: entwurzelte Schlesier, denen es am Nötigsten fehlt, an Seife und Wäsche, weshalb sie sich kaum sauber halten können. Sie sind auf Almosen angewiesen, nicht willkommen in einem gerade erst gegründeten Staat, der aber bald schon wieder mitmischen will auf der politischen Bühne, nicht mehr als Herrenvolk, sondern als Vasall einer neuen Weltmacht, und deshalb lieber an Wiederaufrüstung denkt als an die Integration seiner aus dem Osten davongejagten Landsleute, die noch nicht mal halbwegs menschenwürdig untergebracht sind: ein dramatischer Stoff, abgründig und voller Steinbrüche, ein Geschichtsmassiv, sperrig, nur dem begabten Chronisten zugänglich, der es geschickt zu bearbeiten weiß, unbehauenes Gestein, aus dem der Bildhauer mit sicherer Hand etwas schafft, ein Künstler wie Arno Schmidt, der sich selbst als „Wortmetz“ bezeichnet und das Rohmaterial seines Lebens in Angriff nimmt, in seinen Erzählungen, am Beispiel seiner Figuren, die er aus dem Schicksalsgeröll modelliert, mit den epochalen Umwälzungen als Hintergrund. Da ist Katrin, der bei einem Luftangriff ein Fuß abgerissenen wurde, und der Protagonist erinnert an den Autor, wenn er behauptet: „Ich finde Niemanden, der so häufig recht hätte, wie ich!“ Das paßt zu Arno Schmidt, obgleich diese Aussage in Klammern steht und sich auf den „Brechungswinkel des Lichts“ bezieht, das sich, wie er sagt, ändere, wenn sich die Luft in Wasser verwandle. Es könnte aber auch eine Metapher für das Bewußtsein des Verfassers sein: die Luft steht für die erlebte Realität, das Wasser, diese dichtere Substanz, für ihre Konzentration und der Brechungswinkel für den subjektiven Filter des Autors, der die Erlebnisse reflektiert und gestaltend in Literatur verwandelt. Allerdings kann diese Behauptung („Ich finde Niemanden, der so häufig recht hätte, wie ich!“) auch eine überhebliche Äußerung des Protagonisten sein, der in seinen Mitmenschen meistens nur Dummkopfe und Dumpfbacken sieht, obwohl er die eigene Besserwisserei ironisch relativiert mit einem Hölderlinzitat: die Blindesten aber seien die Göttersöhne, zu denen er sich mit seiner dioptrienstarken Brille wohl auch zählt – aber sein inneres Auge ist dafür umso schärfer. Der Hochmut geht ständig mit ihm durch, etwa wenn er im Dorf, in dem er unfreiwillig gelandet ist, bloß „Flapsgesichter“ und „Misthaufenkult“ sieht, alles als „rübiges Gemüt, Gedankensteppe, Seelentundra“ bezeichnet und überall nur blöde Fußballkultur und christlich-abendländische Barbarei unter Bauern wahrnimmt, die er als „Schützenkönige mit strammen Bäuchen“ und „gemästete oder schwangere Weiber“ beschreibt – Tiraden, in die der Leser schadenfroh einstimmen möchte, der aber auch gleichzeitig bedrückt ist, versetzt er sich in diese Einöde. Besonders packend sind die originellen Metaphern für Natur und Landschaft, Wolken, Regen und Wind, erst recht die unerschöpflichen Vergleiche für den Mond. Die Notgemeinschaft des schnell sich findenden Paares berührt – übrigens hat es etwas ebenso Muffiges wie seine Nachbarn: eine kleinbürgerlich miefige, aber sympathische Heimeligkeit zwischen den beiden, durchaus verklemmt, was der Mann jedoch burschikos überspielt mit seiner ritterlichen Art, wenn er etwa ihr zuliebe auf seinen Militärmantel verzichtet und sie damit zudeckt, während er selber friert. Natürlich muß zuerst die Frage geklärt werden, ob sie auch miteinander „dürfen“ und nicht etwa ein kriegsgefangener Ehemann zwischen ihnen steht. Der ist praktischerweise gefallen, wie sich herausstellt, zudem schon in seinem ersten und letzten Heimaturlaub mit der Nachbarin erwischt worden, zählt also nicht weiter, und der Held dieser Erzählung erscheint umso strahlender, als er dieser Katrin, einer fußamputierten Versehrten und kulturell Unbedarften, unverbrüchliche Treue verspricht – wenn sie sich ganz auf ihn einläßt, seine Vorlieben teilt und gewillt ist, sich von ihm, ihrem neuen Leitstern, in seine Bücherwelten einführen zu lassen. Das setzt die Schmidt’sche Maschinerie in Gang: Grundkonstellation seiner Nachkriegsgeschichten, wobei die einzelnen Umstände wie ein Räderwerk ineinandergreifen, eine Art „Längeres Gedankenspiel“, Wunschtraum von etwas Heilem in all dem Kaputten, dem der Autor sich hingibt und woraus er dann unter anderem diese wunderbare Umsiedler-Geschichte spinnt.

 

                                      *

 

Leviathans donnernde Ankunft in Ahlden Zurück zu dem Foto, auf dem Arno und Alice Schmidt auf einem ländlichen Bahnsteig stehen und wartend in die Ferne blicken, er nach rechts und sie in die andere Richtung, eine Aufnahme, die für mich eine intensive Atmosphäre ausstrahlt, die Leere und Stille eines gewöhnlichen Nachmittags bei sonnigem Wetter heraufbeschwört, wolkenlos, schwül – vielleicht ist es auch nur die Bedrückung, die ich beim Anblick des Fotos empfinde und die unter anderem daher kommt, daß es sich hier um zwei längst verstorbene Menschen an einem sommerlichen Nachmittag vor fünfzig oder mehr Jahren handelt. Das legt sich bleiern auf meine Stimmung, die ich wieder auf die Aufnahme übertrage: eine Melancholie angesichts der Tatsache, daß dieser Schnappschuß einen unwiederbringlichen Moment eingefangen hat, so wie das im Bernstein eingeschlossene Insekt auf die Vergänglichkeit hinweist, erstarrt in diesem durchsichtig goldenen Tropfen einer untergegangenen Zeit, in einer immerwährenden Ewigkeit festgebannt  – worauf warteten sie? Das Diesige auf dem Foto, wo die Kontraste, in der Ferne zu einer Weichheit verschwommen, nur angedeutet erscheinen, in einem verwischenden Hellgrau, bis hin zum alles verschluckenden Licht, das schon ans Nichts grenzt. Jedenfalls ist da nur Leere, ein weißer Fleck, der ein Gefühl der Verlorenheit in mir auslöst, die auf allem zu lasten scheint, wie Tiefdruck bei einer Gewitterstimmung – schon rollt ein einzelnes Grollen heran. Es kommt nicht aus der schwülen Luft, sondern wird über die Gleise weitergeleitet, die wie akustische Leitungsstränge das Grollen verstärken, das sich von ihnen bald ablöst, sich verselbständigt, näher kommt in rasender Geschwindigkeit, immer lauter und bedrohlicher, ohrenbetäubend, sich als heranrollender Zug entpuppt, wie Arno Schmidt ihn in seiner ersten Erzählung so genial beschrieben hat, schwarz, fauchend, gewaltig, feuer- und rauchausstoßend: Leviathan donnert heran, brüllend und speiend, ein Donnergott in der Ahldener Ödnis, wo alles staubig, trocken und tot ist, leer wie ein gewöhnlicher Nachmittag, an dem ein altmodisch gekleidetes Ehepaar auf dem Perron steht, dessen Alltagstrott unterbrochen wird von der Ankunft eines Besuchs – Ernst Krawehl?

                                                                                              *

 

Die Übergabe von „Zettels Traum“ Auf dem Foto ragt Ernst Krawehl vom rechten Rand her schräg ins Bild hinein: hemdsärmelig, mit kräftigen, behaarten Unterarmen, aus denen Adern und Sehnen hervortreten. Mit der linken, aufgespreizten Hand greift er unter die vordere Ecke des Waschmittelkartons, den er mit der rechten Faust an der Kordel festhält. Sie ist straff gespannt und verrät ein ziemliches Gewicht. Es ist nicht nur eine in Kilogramm meßbare Schwere, sondern auch ein geistiger Brocken: das fertige Manuskript von „Zettels Traum“, unschätzbar wertvoll, da nur als dieses eine Unikat vorhanden! Sein Autor, links im Vordergrund und halb von hinten aufgenommen, scheint es nur zögernd zu übergeben, mit angewinkeltem, nervigem Arm, nicht so dunkel und behaart wie der von Ernst Krawehl, was aber an der überbelichteten Aufnahme liegen kann. Es erweckt den Eindruck, Arno Schmidts helle Haut gehe in das Weiß der Pappe über, in der das Manuskript aufbewahrt ist, das wiederum die Innenwelt des Autors aufbewahrt, geronnen in Buchstaben auf DinA3-Papier, schwarze Zeichen auf weißem Untergrund: Runen, Vogelspuren in unberührtem Schnee, aber nicht mit Krallen hinterlassen, sondern mit den hackenden Schnabelhieben der stählernen Typen einer Schreibmaschine hineingestanzt, Schriftzeichen für Schriftzeichen. Doch Arno Schmidt hatte die einzelnen Wörter wieder zertrümmert, um ihren Hintersinn freizulegen, den Kern aus den Schalen herauszuklauben, wie das Fleisch aus dem zerschmetterten Panzer der Krabbe, hatte die Begriffe aufgebrochen, in ihre Bestandteile zerlegt und zu neuen Assoziationen zusammengesetzt, zu Puzzles in anderen Sinnzusammenängen, hatte die Bruchstücke im Kaleidoskop durcheinandergeschüttelt, zerrissene Sätze neu kombiniert, mit ihren Bausteinen jongliert, Laute in andere Konstellationen gebracht, die Grammatik gesprengt, überhaupt das ganze festgefügte Mauerwerk der Sprache, war zu überraschenden Ergebnissen gekommen, hatte ein vielschichtiges Geflecht aus Textfragmenten gewoben, ein virtuoses Gebilde geschaffen, einzigartig in der deutschen Literatur, ein gewaltiges Massiv, in jahrelanger Abgeschiedenheit zusammengetragen, eine Knochenarbeit, wobei er sich, aufgeputscht mit Alkohol, Koffein und Schlafentzug, die Gesundheit ruiniert hatte, in krankhafter Besessenheit, selbstmörderischem Ehrgeiz, hatte sich diesem Großprojekt aufgeopfert und verschrieben, und zum krönenden Abschluß übergab er nun dieses mit dem Raubbau am eigenen Leben bezahlte Ergebnis seinem Verleger. Der hatte ein strahlendes Lächeln im schmalen Gesicht mit der großen Nase, den tiefliegenden Augen, gefurcht vom Wangenknochen bis zum ausladenden Kinn. Er wirkte bodenständig wie ein Handwerksmeister, schien in seiner vorgebeugten Haltung einen Diener vor dem Karton zu machen und überragte Arno Schmidt um Haupteslänge, der immerhin einsfünfundachtzig groß gewesen war und viel um seine stattliche Erscheinung hergemacht haben soll. Dem hünenhaften Verleger gegenüber erschien er jedoch eher kompakt und gedrungen, fast wie ein Bullenbeißer mit vor Spannkraft zusammengezogenen Schultern – aber das dichte ich ihm nur an wegen seiner bissigen Texte, durch die er immer wieder in Schwierigkeiten geriet: Lektoren und Rundfunkfritzen wollten ihm ständig die Giftzähne ziehen, heikle Passagen entschärfen oder streichen und zum Schluß gar nichts mehr mit ihm zu tun haben. Nicht so Ernst Krawehl: der stand, ein salopper Riese, unerschütterlich zu diesem originellen Autor und präsentierte ihn unzensiert einem Lesepublikum, das, angeödet von einem sonst eher betulichen Literaturbetrieb, hungrig war nach seinen provozierenden Schriften – dieser treue Vasall und unscheinbare Verleger, schlaksig, im bauschigen Hemd mit offenem Kragen, Achselklappen, ausgebeulter Brusttasche und in zerknitterten Jeans, ungefähr fünfzig auf diesem Bild, das Alice Schmidt wohl geknipst hatte, zur Erinnerung an diesen Höhepunkt im Leben ihres Mannes, ein schlechtbelichtetes Schwarzweißfoto, das die beiden Männer in ihrem Triumph festhält, die sich gegenüberstehen, der Autor etwas vorgebeugt, als ziehe ihn nicht bloß das Gewicht des Manuskripts herunter, sondern als verneige er sich ebenfalls vor seinem Geniestreich, scheinbar benommen, als könne er es noch nicht glauben, mit angespannten Rückenmuskeln, als schlage er die Hacken vor seiner eigenen Leistung zusammen, allerdings selbstironisch, wohl mit einer sarkastischen Bemerkung auf den Lippen.

 

                                                                                              *

 

Arno Schmidt und Ernst Krawehl lernen sich kennen Nein, das war nicht in Ahlden, sondern in Serrig, Jahre zuvor, nicht im nördlichen Flachland, vielmehr in südlicher Gegend: wellig stelle ich sie mir vor, ungefähr wie das Bergische Land in der Nähe von Köln, nicht schroff – sanfthügelig. Aber was weiß ich schon von Serrig? Jedenfalls war es im Spätsommer 1955, genau am 22. August, zur Zeit der reifenden Brombeeren. Da trat Ernst Krawehl, ein großer, starkknochiger Mann, auf, vierzehn Jahre vor der Übergabe von „Zettels Traum“, zu einer Zeit, als Arno Schmidt so ausgesehen haben muß wie auf einem anderen Foto, das ihn in Kastel vor einer offenen Haustür zeigt, in einem dicken Mantel, scheinbar aus Loden, zugeknöpft, mit großem, zurückgeklapptem Kragen und steifem Revers, so steif wie der Mann darin, als sei er eine Schneiderpuppe, und er stützt sich mit der rechten Hand auf einen Stock, hat die Linke in der Manteltasche, auf dem Kopf eine runde schwarze Baskenmütze mit kaum angedeutetem Zipfel, schräg aufgesetzt, ein bißchen keck, doch trotzdem wirkt er starr, verschlossen, scheint mich, den Betrachter dieser Aufnahme, streng zu fixieren, durch runde, dick und schwarz umrandete Gläser, abweisend, mit heruntergezogenen Mundwinkeln und maskenhafter Miene. Aber es gibt noch ein Foto aus der gleichen Zeit, das ihn ganz anders festhält, geradezu entspannt, in einem spätsommerlichen Garten, wo er einen Blumentopf mit einem blühenden Kaktus in den Händen hält. Auf wieder einem anderen Foto aus jener Zeit lehnt er, in Hemd und Pullunder, an einem Felsvorsprung oberhalb der Saar, in der Nähe von Kastel, im Seitenprofil aufgenommen, die Rechte locker in die Hüfte gestemmt, mit abgewinkeltem Arm.

 

Zurück zu Ernst Krawehl, der, das noch ungelesene Manuskript vom „Steinernen Herzen“ in der Tasche, unterwegs zu diesem offenbar begabten, jedenfalls vielversprechenden Autor war, von dem er erst eine Erzählung kannte, die noch nicht als Buch vorlag und ihn trotzdem schon polizeibekannt gemacht hatte, nachdem sie in einem Literaturmagazin abgedruckt worden war, denn er war deswegen angezeigt worden und hatte nun einen Prozeß wegen Gotteslästerung und Pornographie am Hals, was zwar einiges zum Bekanntheitsgrad des bis dahin kaum beachteten Autors beitrug, ihm aber auch ganz schön an die Nieren gegangen sein muß, zumal seine Existenz nicht gesichert war, er mit seiner Frau in den bedrückendsten Verhältnissen lebte oder besser kümmerte. Ernst Krawehl schilderte später in einem Interview, wie er den langen, heißen Weg an hohen Sandsteinwänden entlangmarschierte und schließlich das Bauernhaus erreichte, in dem das junge Ehepaar untergekommen war, nicht nur als Vertriebene, sondern auch noch geflohen vor dem drohenden Prozeß, also geflüchtete Flüchtlinge, doppelt gemoppelt, die in der deprimierendsten Ärmlichkeit lebten, in mit etwas Sperrmüll ausstaffierten leeren Räumen, „praktisch in der gepolsterten Kartoffelkiste“, wie Ernst Krawehl sich ausdrückte, auf unterstem Nachkriegs- und Vertriebenenniveau. Er, der Besucher, wurde keineswegs freudig empfangen, sondern mit einem „Oh Gott auch das noch!“, eine Begrüßung, die einen normalerweise auf dem Absatz umkehren läßt, nicht aber diesen Verleger, der später erfuhr, daß Arno Schmidt an diesem selben Vormittag vom Amtsrichter vernommen worden war und, zurückgekommen, gerade erst das Telegramm gelesen hatte, das seine, Ernst Krawehls, Ankunft ankündigte – da stand er auch schon vor ihm: kein gutes Omen, zumal die Zusammenarbeit mit dem vorherigen Verleger gründlich schiefgegangen war. Herrje, Arno Schmidt wollte doch bloß seine Ruhe haben und schreiben. Aber die Verhältnisse waren nun mal nicht danach, und ohne die Freßpakete seiner Schwester aus Amerika wären er und Alice bestimmt schon längst verhungert... Alles schien falsch eingefädelt zu sein. Arno Schmidt war ziemlich gereizt. Ihm lag noch die Demütigung vom Vormittag im Magen, dieses Vorgeführtwerden von Beamtenfritzen, Sesselfurzern, die nichts von seinem Schreiben verstanden. Das übertrug der Autor auf den fremden Ankömmling, der ausgerechnet heute hier aufkreuzte: ein schwitzender Kerl mit Rucksack, dem er dann aber trotzdem erst mal ein Glas Wasser anbot. Mehr hatte Arno Schmidt ihm nicht anzubieten, der arme Schlucker, angeblich ein zwielichtiger Pornoschriftsteiler – peinlich: nichts mehr da, kein Wein, kein Bier, kein Schnaps, und sogar sein geliebter Nescafé war ausgegangen. Und dieser Typ war doch nur gekommen, um ihn zu kaufen. Klar, der hatte bloß seinen Reibach im Sinn, wollte sich wie diese anderen Halsabschneider auf seine Kosten bereichern. Und wenn er tausendmal den weiten Weg extra seinetwegen auf sich genommen hatte: abzocken und bevormunden wollte ihn der Herr Verleger. Das kannte Arno Schmidt schon zur Genüge von dem anderen Großkotz, Rowohlt, der ebenfalls Ernst hieß, genau wie dieser Krawall oder Krakeel: wenn das kein schlechtes Zeichen war. Und Arno Schmidt ärgerte sich, daß er ihm auch noch vorsäuselte, wie furchtbar nett es doch sei, daß er sich die Mühe gemacht habe, ihn hier aufzusuchen - diese Verlogenheit. Er würgte weitere Höflichkeitsfloskeln wütend herunter, schlug sich auf den Mund und rief mit verzerrtem Gesicht: „Nein, nein, nicht diese Töne!“ Arno Schmidt sprach jetzt Tacheles, sagte ihm auf den Kopf zu, er sei ja bloß gekommen, um Geschäfte zu machen, so, jetzt sei es heraus, aber er gebe sein Herzblut nicht für sowas her. Am liebsten wäre Ernst Krawehl umgekehrt. Doch das war praktisch unmöglich: in diesem Kaff kriegte er für heute keinen Zug mehr. Also mußte er bleiben, wenn auch bloß für eine Nacht, mit dem festen Vorsatz, nie wiederzukommen. Sie arrangierten sich: das Gebot der Höflichkeit erforderte es. Arno Schmidt gab sich einen Ruck und opferte ihm seinen Nachmittag – den Vormittag hatte er schon vergeudet. Was half’s. Sie machten Konversation, verspannt und gestelzt, „stilisiert“, wie Ernst Krawehl es dann im Interview nannte, der einige freundliche Bemerkungen über „Pocahontas mit Seelandschaft“ anbrachte: das fiel ihm nicht schwer – der Text hatte ihm wirklich gefallen. Wie überaus treffend die Landschaft und der Dümmer See geschildert sei, lobte er: den kenne er gut, er habe ihn schon in seiner ganzen Breite durchwatet. Da kriegte er wieder einen Dämpfer. Er habe rein gar nichts von dem Buch verstanden, erklärte Arno Schmidt schroff: es heiße nicht „Pocahontas mit Seelandschaft“, sondern „Seelandschaft mit Pocahontas“ – es gehe also nicht um die Gegend, sondern... „Ach, lassen wir das!“ Sie verabschiedeten sich. Ernst Krawehl schluckte seinen Ärger herunter: war ja bloß für eine Nacht – und ging in die Dorfkneipe, die einzige Unterkunftsmöglichkeit hier in diesem lausigen Nest.

 

Aus und vorbei schien es zu sein, der Bruch zwischen den beiden endgültig. Ernst Krawehl betrat die Dorfkneipe: typisch, mit derbem, rustikalem Gehölz, Paneel, Deckenbalken und Mobiliar aus deutscher Eiche – weißgeschliffene Tischplatten, darauf rotweißkarierte Deckchen und dunkle, grobgeschnitzte Stühle mit gedrechselten Beinen und Lehnen drumrum, einen nicht mehr auszulüftenden, gleichsam hineingebeizten Bier- und Zigarettenmief ausdünstend, halbduster wegen der kleinen Fenster mit gerüschten, ebenfalls rotweißkarierten Gardinen, mit klobigen Bauern- und Knechtfiguren wie eine Guckkastenbühne bestückt, wozu auch noch das dumpfe, mundartlich verschliffene Gemurmel gehörte. Da konnte man sich nur noch besaufen: das Gefühl, ein Fremdkörper zu sein, wegspülen, auch das Unerfreuliche der Begegnung mit diesem verrückten Arno Schmidt. – Schnitt. Nächster Morgen. Sonnenlicht im stickigen Zimmer des Schnarchenden, Verschwitzten, Verkaterten, das ihn blendete. Unrasiertes Gesicht im Spiegel. Mit einem Ruck stand Ernst Krawehl auf, beeilte sich, hier wegzukommen: scheiß auf das Frühstück – schulterte seinen Rucksack, und ab die Post, Richtung Bahnhof. Steindamm an den Schienen entlang. Schäbiges Bahnwärterhäuschen: es strömte wie das ganze Dorf etwas Muffiges aus, schlug ihm wie Mehltau aufs Gemüt. Stop. Ich lasse den Film zurücklaufen, setze neu an bei der Szene: Ernst Krawehl schwappte sich kaltes Wasser in die Achselhöhlen, ins Gesicht, begann mit dem Naßrasieren – da klopfte es an seiner Tür. Arno Schmidt war mit seiner Frau gekommen, nicht um über eigene Texte zu reden, sondern über andere, die im Stahlbergverlag veröffentlicht worden waren oder dort verlegt werden sollten, Bücher von Malaparte. Das Gespräch muß so anregend gewesen sein, daß sie sich kurzerhand zu einem langen Spaziergang durch Kastel und in der Umgebung entschlossen, die beiden ungleichen Männer allein – Alice Schmidt ging zurück in die „gepolsterte Kartoffelkiste“. Und es geschah ein wichtiges Ereignis für die deutsche Nachkriegsliteraturgeschichte: der noch etwas verkaterte Verleger schloß Freundschaft mit diesem eigensinnigen Autor, die ein Leben lang halten sollte, wenngleich zwischen ihnen die Distanz gewahrt und es beim „Sie“ blieb. Ein bedeutender Spaziergang. Arno Schmidt konnte wohl auch nett sein, liebenswert, das Gegenteil eines grollenden Nörglers, sogar ausgelassen, begeistert – Ernst Krawehl hat es so geschildert. Ich stelle mir vor, wie sie locker wurden, wenn auch nur bis zu einem gewissen Grad, während sie um Kastel herumwanderten. Schließlich krochen sie sogar auf dem Bauch unter Dornenbüschen hindurch, um einen bestimmten Blickwinkel zu bekommen, den Arno Schmidt in einer Erzählung beschrieben hatte, der plötzlich alles mögliche erzählte, aufgeregt wie ein Kind. Ihre Stimmung wurde „pfadfinderhaft gemütlich und kameradschaftlich“, wie Ernst Krawehl sich später ausdrückte, der noch eine andere „Szene am Rande des Grotesken“ zum besten gab, die sich außerhalb von Kastel ereignete, hoch über dem Fluß, wo sie über eine gewölbte Wiese gingen, hinter der nichts außer Himmel zu sehen war. Arno Schmidt packte ihn plötzlich bei der Hand und begann mit ihm zu laufen, rannte mit ihm bis zum äußersten Rand der Wiese, die wie abgehackt endete, vor einer über hundert Meter tiefen Steilwand, ein abrupter Absturz zur Saar, und während der Verleger erschrockene nach Luft schnappte, fragte sein Führer augenzwinkernd: „Na, Herr Krawehl, was halten Sie davon?“

 

Sie gingen über die leicht gebuckelte Wiese, hinter der der Himmel wie eine Wand aufragte, tief blau oder bedeckt, milchig oder mit weißen Schäfchenwolken, keine Ahnung, jedenfalls brütend, an einem heißen, schweißtreibenden  Augusttag, gingen nebeneinander her, nicht zu dicht aneinandergerückt, durch eine herrliche Landschaft, und Arno Schmidt, aus der Reserve gelockt, geriet ins Reden, steigerte sich in einen seiner Monologe hinein, redete wie von einer inneren Kraft gestoßen, eruptiv, geschüttelt von einer aus seinen Tiefen gestiegenen Gewalt, mit heftigen Bewegungen, während er ein Tempo vorlegte, das an die Gewaltmärsche seiner Soldatenzeit erinnerte, wobei das Bemerkenswerteste seine Stimme war, dieses seine inneren Stürme wiedergebende Klanginstrument, Lautmalereien seines wiederum eigenwilligen Organs, mit dem er seine Ansichten, Meinungen, Tiraden, Elogen und Kapriolen, seine Lobeshymnen und Verdammungsurteile herauskatapultierte, ein Stakkato von Konsonanten, ein Explodieren von Vokalen, die gleichsam abgeschossen wurden, zischende, heftige Töne, aggressiv und prononciert, als werfe er sich gegen einen unsichtbaren Käfig, wütend, jedes Wort ein Speer, den er auf ein Ziel schleuderte, das er zornig aufspießte: schnelle, präzise breitgefächerte Salven, gestochen akzentuierte Artikulationen, ein Sperrfeuer mit rollendem R, knatterndem K, sichelndem S, platzendem P, näselndem N und berstendem B, ein scharfsinniger Seiltanz, souverän und traumwandlerisch sicher, ein Balanceakt zwischen instinktiver Geschmeidigkeit und intellektueller Brillanz, frappierend, suggestiv, auch komisch und slapstickartig... Die beiden schritten also an von Feldern aufschauendem Landvolk vorbei, das grüßte, hinter ihnen aber den Kopf schüttelte: diese spinnerten, räsonierenden Hampelmänner. Zuletzt kehrten sie erschöpft zurück zur ärmlichen Unterkunft, nahmen einen kargen Imbiß ein, gingen dann zu dritt, denn Alice Schmidt begleitete die beiden ungleichen Männer, zur Saar hinüber, wo Ernst Krawehl die Fähre betrat, während sich in der Dämmerung ein Gewitter anbahnte, das schon bedrohlich grollte, und da stand er dann in der sogenannten „Ponte“, eine große Stahlwanne entlang einer rasselnden, rostigen Kette, schwankend und um Gleichgewicht bemüht, während der Fährmann seinen Fahrgast zum anderen Ufer stakte, bei zunehmender Dunkelheit, und das verloren wirkende Ehepaar immer kleiner wurde, hölzernen Figuren gleich... Als Ernst Krawehl schon in der Flußmitte war, von braunen Wellchen umschwappt, erhob Arno Schmidt den Arm, zeitlupenhaft langsam, ließ ihn dann wieder fallen, richtete ihn erneut wie einen Flügel auf und ließ ihn sinken, mehrmals hintereinander, steif und puppenhaft, umso lebhafter, je mehr er sich entfernte, als wäre er darüber erleichtert, und plötzlich machten Arno und Alice Schmidt „à la preußisches Kommando“, wie Ernst Krawehl es beschrieb, „eine Kehrtwendung um 180 Grad, und sie stapften den steilen Feldweg davon, die Flußböschung hinauf, lange noch sichtbar, ohne sich noch einmal umzusehen.

 

                                      *

 

 


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