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Friedhof
 

Friedhof

Jenseits unserer Siedlungsanlage befindet sich der Friedhof hinter einer dreimeterhohen, verputzten Ziegelmauer, eine sich weithin erstreckende Parkanlage, die grüne Lunge unseres Bezirks, uns Untoten Atem spendend, während die in seinem Erdreich begrabenen Toten keinen mehr brauchen, sich vielmehr, indem sie zerfallen, in der grünen Lunge assimilieren, verwandelt in Humus, vom Wurzelwerk des stattlichen Baumbestands aufgesogen, hinaufbefördert bis ins feinste Ast- und Laubwerk. Und so zurückgekehrt in den ewigen Kreislauf, treten sie wieder als Sauerstoff aus, den nun andere Lebende einatmen, Kurt und ich etwa, auf dem Weg zu besagtem Friedhof, während Kurt mit seinem Buch, Kafkas Erzählungen, herumfuchtelt, das er nicht, wie alles übrige, in seinen Rucksack gesteckt, sondern in der Hand behalten hat, als sei es eine Krücke, auf die er sich nicht leiblich, aber geistig stützt, wild gestikulierend, mit unkoordinierten Schritten, einem mal schlurfenden, dann vorwärtspreschenden, sogar springenden Gang, bis er wieder auf der Stelle tritt oder einfach stillsteht, so daß er von mir weitergeschoben werden muß, wobei er unermüdlich  exaltiert die These wiederholt und variiert, man müsse so schreiben, als gehe es um das nackte Leben, schreibend die Grenzen sprengen, in deren Klammergriff das Lebendige ersticke.

     Das Lebendige, so er, das Buch, Kafkas Erzählungen, wie zum Schwur auf die Bibel erhebend, sei etwas unterhalb der Verkrustung des sogenannten Lebens Verborgenes, der Lava innerhalb der Erdkruste vergleichbar und von den Menschen, den wie Termiten in ihrem Bau eingemauerten, kaum jemals wirklich erlebt und erfahren. Denn, und der Kafka in seiner Hand beschreibt einen Bogen wie hinab in die heraufbeschworene Lebenstiefe als Lava: es, das Lebendige überhaupt und an sich, versteinere naturgemäß schon mit seiner Heraufkunft an die Oberfläche, auch Realität genannt, so wie besagte Lava bereits während ihres Ausbruchs erkalte, erstarre und alles sonst noch Lebendige unter sich, in schlagartiger Gemeinschaft mit dem Toten ringsum, erstickt und begräbt.

     Während er begräbt ausspricht, betreten wir wie auf ein genau dazu passendes Stichwort den Friedhof, das heißt, wir durchschreiten die Pforte mit der Glocke und dem Pförtnerhaus zur Linken, dem von abbröckelndem Putz verunstalteten Ziegelbogen zu Häupten und dem stählernen Halter mit Gießkannen aus blaugrauem Plastik zur Rechten, betreten also das früher als Gottesacker bezeichnete Areal, während Kurt das Buch, Kafkas Erzählungen, nunmehr gegen die Brust, genauer: an sein Herz drückt, womit er sich, wie ich weiß, wappnen will gegen wenn auch nicht sichtbare, so doch stechend spürbare Pfeile aus dem Totenreich, wie er mir anvertraut hat, die jetzt abprallen am Buch als Herzensrüstung. Schon oft mußten wir, weil Kurt plötzlich unfähig war, einen weiteren Schritt vorwärts zu machen, auf dieser Schwelle, auf der beim letzten Übertritt alle Hoffnung geschwunden sein wird, umkehren, da, wie er mir gestand, der Beschuß aus dem Jenseits zu heftig sei. Doch jetzt, hinreichend geschützt vom an sich gepreßten Buch, Kafkas Erzählungen, schreitet er tapfer voran, ich hinterher, Richtung der golden schimmernden Bronzefigur, die einen rastenden Wanderer vorstellt: ein Jüngling in der sinnenden Pose der Denker-Skulptur von Rodin.

Um diesen Kitschjüngling, so Kurt, hätten früher all die Frauen aus seiner Nachbarschaft, Kriegerwitwen zumeist, auf den in Halbkreisen angeordneten Bänken gehockt, Totenvögeln gleich, denn sie hätten alle Schwarz getragen, Trauersachen noch Jahrzehnte nach jenem ungeheuerlichsten Menschheitsverbrechen, in dem ihre Männer nicht, wie behauptet, Helden gewesen und auf dem Feld der Ehre gefallen wären, vielmehr seien sie Rädchen in einer barbarischen Todesmaschinerie gewesen und elend verreckt und verröchelt.

Trauerflorschwarze Krähen, hebt er neu zu erzählen an, das Buch, Kafkas Erzählungen, immer noch fest an sich gedrückt, und er reibt seine Brust an Kafka bzw. seinen in Deckeln eingesperrten Geisteserzeugnissen: wie schwarze Krähen seien diese Weiber gewesen, sagt er, und wie einen Schild trägt er das Buch vor sich hin, aus dem, kaum ist es geöffnet, Kafkas Geist ihn anspringt, so daß er es nur noch geschlossen erträgt, zugleich als Phalanx gegen die feindliche Strahlung der Toten, nicht zuletzt jener nunmehr dahingeschiedenen Kriegerwitwen, die er einst so gefürchtet habe, auch  heute noch, fügt er hinzu und pocht sich sozusagen mit Kafka an die Brust.

Diese nicht nur trauernden, sondern auch traurigen Krähen in Schwarz kämen ihm jetzt aber auch lächerlich vor, früher nur fürchterlich, heute mitunter außerdem lächerlich: Weibsgebilde als verstaubte Theaterheroinen, die auf ihren Tod warteten, ihre Rente geizig bewirtschaftende Buckelweibchen, mittlerweile zum Glück alle tot, nicht von uns gegangen, wie es so verblümt heiße, sondern in die Grube gefahren, als Leichnam verfault, denn in deren Generation habe die Feuerbestattung noch als Frevel gegolten. Das müsse man sich einmal vorstellen: für die Gattinnen von längst in der Fremde verwesten Handlangern eines bestialischen Regimes, das ganze Völker zynisch in Rauch habe aufgehen lassen, sei die eigene Verbrennung ein Tabu gewesen, ereifert sich Kurt und gerät in einen veitstanzähnlichen Zustand, und ich muß ihn beruhigen, will ihn auf eine der Bänke um den rastenden Wanderer führen – nein, alles, nur nicht zu den Bänken der einstigen Kriegerwitwen, diesen den eigenen Tod herbeisehnenden Totenkrähen, deren trübe Sehnsucht längst in Erfüllung gegangen sei, wären sie doch schon vor Jahren in den allgemeinen Recyclingsprozeß eingegangen, auferstanden in den Bäumen ringsum, deren Laubwerk uns zuwinke. Und plötzlich hat Kurt die Zwangsvorstellung, der Wurm dort auf dem blumenbepflanzten Grab einer gewissen Helene Munz, im Alter von sechsundneunzig Jahren vor kurzem verstorben, sei die Wiedergeburt jener Munz, die er schon als Knabe gekannt und gefürchtet habe, herausgekrochen aus ihrem verfaulten Gekröse, in diesem Augenblick zerkleinert von einer Mörderamsel, verhackstückt und hinuntergewürgt diese Helene Munz als diese Art Wurm, und er galoppiert, sein Rucksack ein hüpfender Reiter, den Weg zur Rechten entlang, und ich wie immer hinterher.

An der verborgensten Stelle des Friedhofs, versteckt zwischen Gebüsch, von Menschenhand angelegtem Kunststrauchwerk, wie Kurt sich ausdrückt, hat der seine Galoppade eingestellt, den auf seinem zum Greisenbuckel sich rundenden Rücken reitenden Rucksack heruntergestreift, ein Billigstück aus bereits mürbe werdendem Lederimitat, hat ihm den Bauch aufgeschnürt und die Utensilien entnommen, die wir zum Nachmittagsurlaub hier auf dem Todesanger benötigen, der zu unserer Wohnung mit seinen in Baumwipfel verwandelten Kriegerwitwen herüberwinke, so Kurt, der, wie gesagt, seinen Billigrucksack ausweidet, Sitzkissen, Bücher, Musik-CDs, Obst, Süßigkeiten und Plastikflaschen auspackt, die gefüllt sind mit Leitungswasser, denn er muß viel trinken wegen seiner bedrohlich zunehmenden Gichtanfälle, die ihn, den ohnehin schon bis an den Rand des Existenzabgrunds Zermürbten, noch mehr vermorschen und verkrüppeln, so er.

Nicht daß wir jetzt läsen oder Musik hörten, vornehmlich Henze. Vielmehr rutscht Kurt, auf der Suche nach einer erträglichen Sitzhaltung, unentwegt auf seinem Kissen hin und her, schon jetzt unter Kreuzschmerzen leidend, der ihm auferlegten Art einer Kreuzigung, gepeinigt von einem ihm übelwollenden Quälgeist, der jetzt in der Verkleidung einer rückenverbiegenden Banklehne sein böses Spiel mit ihm treibe, doch allem Leiden zum Trotz will er fortfahren in seinem vorhin unterbrochenen Vortrag über das Schreiben und stolpert schon über die erste Silbe, würgt daran wie an einer im Halse steckengebliebenen Gräte. Schreiben, spuckt er aus, mit untermalenden, ihn wie Tauben umflatternden Händen, bricht ab und bleibt stumm, während die Hände, jetzt zickzackschlagende Schwalben, ihn heillos umsegeln und dann, als wären sie gegen eine unsichtbare Mauer geprallt, abstürzen und dumpf auf die Bankbretter schlagen, wo sie verzittern wie wirklich verendende Vögel, Totenvögel mal wieder, und ich frage behutsam: Schreiben...?

Rücksichtslos, stößt er plötzlich hervor, müsse es sein, gnadenlos, absolut autonom, jede Konvention überrennend, eine Exaltation aus dem Seinsgrund heraus, das nur so in die Freiheit gelange, sich seiner Einkerkerung entsprenge, die immer wieder auch über ihn als Schreibenden hereinbreche, ihn begrabe und einfriere in einem exorbitanten Eiszeitsteinbruch, während der Seinskern gleichzeitig verglühe, verschlacke und unermüdlich freigekämpft werden müsse von Künstlern wie ihm: wirkliche Ritter des Grals – hier!, und er reißt das immer noch in seiner Hand befindliche Buch, Kafkas Erzählungen, wie ein die bösen Mächte bannendes Totem empor und schleudert es gegen die Grabkreuze ringsum. Oder hier!, und er wirft Henzes Requiem, als Raubkopie auf einer schwarzgebrannten CD, in die Luft, eine silbrig schimmernde Scheibe, und sie prallt gegen einen Grabstein und bleibt im Grabmulch stecken, Henzes schwarzgebranntes Requiem – welch eine Symbolik!

Ich will die Scheibe herausziehen, in den CD-Player einlegen und hören, ob ihre Klavier- und Trompetenstimmen noch Laut geben. Aber Kurt stößt mich beiseite und tritt sie so tief in das Grab, daß nur noch ein Silberstrich von ihr zu sehen bleibt. Anschließend holt er das Buch, Kafkas Erzählungen, öffnet es und beginnt daraus vorzulesen, natürlich exaltiert, wie sich das für einen solchen, den Seinsgrund auf exaltierte Weise bloßlegenden Autor, gezieme. Also beginnt er eine erste, ernsthafte Totenrede hier zu halten, wie er mir, die Lektüre unterbrechend, zuschreit, obwohl ich direkt neben ihm stehe und nicht schwerhörig bin. Bald schreit er sich in die Lesung hinein, setzt sie lauthals fort, wie um den dämpfenden Mulch über den Toten ringsum zu durchdringen bzw. sich in ihr abgestorbenes Gehör Zugang zu verschaffen. Ich packe schon mal in weiser Voraussicht die Sachen zurück in den Rucksack und schultere ihn.

Tauchen da drüben nicht Totenbesucher zwischen den Ziersträuchern und Grabsteinen auf? Witwen, vermute ich, die Unkrauthacke in der Hand, und ihre Söhne, schmerbäuchige Mittvierziger, bedrohliche Brechkerle. Ich ziehe und zerre an Kurt, schiebe den vor mir her Hampelnden Richtung Hinterausgang, drehe ihn, den sich Sperrenden, links ins zugewucherte Baggergrubengebiet, zwinge ihn dort in eine kaninchenköttelgepolsterte Sandmulde, drücke den sich Aufbäumenden zurück in die Kuhle, stülpe ihm die Kopfhörer über und stelle ihn ruhig mit Musik von Silvestrov, um Gottes Willen nicht Henze, der putscht ihn bloß auf, Silvestrov sediert ihn. Da drüben geht eine Streife vorbei, und die Friedhofsglocke bimmelt Alarm. Oder sind es Spaziergänger in Loden, und erinnert die Glocke nur an die kurz bevorstehende Schließung des Friedhofs? Ich bin mir nicht sicher, und suche unter dem zweiten Kopfhörer ebenfalls Ruhigstellung und Schutz in Silvestrovs hypnotischen Klängen.


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