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Der Gottesmann

Mädchen hatten mich schon immer interessiert, bereits im Vorschulalter, damals im Marienhaus, wo ich noch keine Ahnung vom Unterschied zwischen Jungen und Mädchen gehabt hatte, bis eines Tages, als wir alle in einer Reihe vor der Badewanne standen und warteten, daß wir drankamen. Während die Schwester vorne einen Nackedei einseifte und abspülte, ihn dann an die Erzieherin weiterreichte, die ihn abtrocknete, schlüpfte Karin schon aus ihrem Schlüpfer (darum hieß er wohl auch so), und was ich plötzlich bei ihr feststellte (warum hatte ich es nie vorher wahrgenommen?), war eine Art Minipopo vorne zwischen ihren Beinen – ansonsten war es da so glatt wie bei ihrer Puppe Rosemarie, mit der sie mich nicht hatte spielen lassen, nein, ich hatte nur zugucken dürfen, wie sie sie gefüttert, ausgezogen und, wie es die Schwester nun mit ihr selber machte, abgewaschen hatte, ach, war das langweilig gewesen, im Gegensatz zu ihrer Spalte da vorne, obwohl dort ausgerechnet das fehlte, was bei mir so praktisch war, vor allem draußen beim Spielen, wenn ich mich einfach ans Gebüsch stellen konnte, und fertig: jetzt begriff ich auch, warum die Mädchen sich immer so anstellten, zimperlich im Ginsterbusch verschwanden und kreischten, wenn wir hinter ihnen herschlichen. Rainer fuhr als Nächster aus seiner Plinte und wurde, hauruck, in die Wanne gehoben, und ich verfolgte gespannt die Hände der Schwester auf seinem glänzenden Leib, wie sie darauf hin- und herglitschten, über den Hintern, die Schenkel, auch wie sein Hähnchen flutschte und zuckte zwischen ihren vom Wasser geröteten und verschrumpelten Fingern, im Seifenschaum unterging und wieder auftauchte: jetzt endlich sah und wußte ich den Unterschied zwischen Jungen und Mädchen.

 

Auf dem Sommerfest damals, vor dem alten Kasino, tanzte ich mit Karin Brüderchen-und-Schwesterchen, vor allen Leuten aus dem Heim, was mich so verstörte, daß ich ganz aus dem Takt kam, beim Einmal-hin-einmal-her das rechte statt das linke Bein schwang und mich beim Rundherum-das-ist-nicht-schwer in die falsche Richtung um mich selber drehte, weil es eben doch schwer war, und noch einmal von vorne, aber jetzt wußte ich nicht mehr, ob ich erst in die eigenen Hände oder in die von Karin klatschen sollte, die Blödian! zischte und mir wie aus Versehen ins Gesicht klatschte, und ich weinte bloß nicht, weil ich mich vor den Zuschauern nicht blamieren wollte. Ich fand es aber gemein, daß Mädchen hauen und weinen durften, ohne sich deswegen schämen zu müssen, Jungen jedoch nicht. Vielleicht war es Mädchen erlaubt, weil sie kein Hähnchen hatten, die Ärmsten, pah, und deswegen saßen sie wohl auch später im Klassenraum und in der Kapelle auf der linken und wir auf der rechten Seite: wir waren halt was anderes, obwohl sie das wieder besonders machte, irgendwie geheimnisvoll wie ihr Schlupfloch da vorne.

 

Nur wenn ich heiratete, käme ich hinter ihr Geheimnis, aber das widersprach meinen Plänen, Missionar zu werden und mein Leben in den Dienst des Herrn zu stellen, obwohl mich die Vorstellung grauste, in einem Kessel auf einem Feuer von Menschenfressern gekocht zu werden, nein, lieber hätte ich wie Sankt Georg auf einem stolzen Roß den Teufel in Drachengestalt niedergestochen. Cowboy wäre auch noch toll gewesen: Mustangs fangen und so, aber es gab keine Mädchen dabei, wohl weil man mit ihnen kein Wettpinkeln veranstalten konnte, was ja auch eine Sauerei war und die eben reingebeichtete Seele wieder dreckig machte, ebenso, wenn ich fluchte oder ein unkeusches Wort dachte, also in Gedanken sündigte, woran natürlich nur die Mädchen schuld waren – überhaupt an meiner Wollust, die ich noch nicht mal beichten konnte, weil ich mich dann vor dem Gottesmann blamiert hätte, so daß ich seine Absolution durch die Sünde der Lüge auch noch erschwindelt hatte, was eine richtige Todsünde war, ach, diese Mädchen, angefangen bei Eva, über Karin, und wer weiß, wie viele Versucherinnen noch folgen würden.

 

Groß und mächtig stand der Gottesmann im prunkvollen Ornat mit ausgebreiteten Armen vor dem Altar, kein demütiger Diener Gottes, sondern sein Stellvertreter, ein ehrfurchtgebietender Streiter für das Himmelreich, sowas wie Sankt Michael in Menschengestalt, und wurde das an den Erzengel gerichtete Lied Hilf uns hie kämpfen, die Feinde dämpfen! in der widerhallenden Kapelle gesungen, starrte ich gebannt auf diesen gewaltigen Mann, der mit seiner hünenhaften Gestalt nicht nur an den Bezwinger Luzifers denken ließ, sondern auch an Rübezahl, obwohl er keinen Bart hatte, dafür aber feuerrotes Haar, das, zu störrisch und hart, um von Kämmen und Bürsten gebändigt zu werden, wie eine Lohe von seinem Stierschädel aufflammte, als überkomme ihn gerade jener Heilige Geist, der die Apostel zu Pfingsten erleuchtet hatte, so wie er jetzt uns Kinder hier erleuchtete, denn er war anders als sein Vorgänger: ein im lateinischen Ritus erstarrte Greis, der seine Formeln wie ein Sprechautomat heruntergeleiert und langweilige Liturgien zelebriert hatte, bei denen ich ständig gegen eine bleierne Müdigkeit zu kämpfen gehabt hatte, auch gegen die wachsende Übelkeit, die mich wegen der verbrauchten Luft und, da ich die Kommunion nur nüchtern empfangen durfte, wegen des leeren Magens umzuhauen gedroht hatte. Dagegen las dieser Gottesmann die Messe nicht nur auf Deutsch, damals etwas Neues, und er sprach auch nicht in leeren Floskeln über die Köpfe der in die vorgehaltenen Hände hineingähnenden Zuhörer hinweg, sondern holte uns aus der Lethargie, indem er uns direkt ansprach und unsere Antworten in seine Predigt mit einbezog, wenn er etwa die Frage stellte, wer von uns einen Flitzebogen habe, worauf er sich von den aufzeigenden Jungen erklären ließ, wie sie ein solches Ding herstellten und was sie als Pfeile benutzten. Er erinnerte uns an den Unglücksfall, der sich vor kurzem ereignet hatte: ein Junge war von einem Pfeil am Oberschenkel verletzt, zum Arzt gebracht, gegen Tetanus geimpft und genäht worden, und er rief diesen Unglücksraben auf und ließ sich von ihm ausführlich beschreiben, wie die gezackte Scherbenspitze durch die Haut ins Fleisch eingedrungen und das Blut herausgespritzt war. Da ich kein Blut sehen konnte, wurde mir davon ganz schlecht, und ich wollte mich schon aus der Betbank drücken, als es wieder spannend wurde und ich meine Übelkeit vergaß. Der Gottesmann wechselte vom lockeren Unterhaltungston in einen ernsten Tonfall, erzählte uns vom Heiligen Sebastian, wobei er zur Veranschaulichung die Schmerzen des vom Pfeil verletzten Jungen heranzog, sie auf den Märtyrer übertrug, und jetzt konnten wir uns lebhaft die zahllosen Fleischwunden auf dem Leib des jungen Soldaten vorstellen, seine zerfetzte Haut, eben noch makellos, jetzt blutüberströmt, während er am Pfahl zuckte, aber trotzdem an seinem Gott festhielt: puh, das haute rein!

 

Später im Beichtstuhl haspelte ich meinen einleitenden Spruch herunter, zählte meine Sünden in der Reihenfolge der Zehn Gebote auf, angststarr vor dem Beichtvater, dessen mächtiger Umriß hinter dem mit Plastikfolie überzogenen Scherengitter im Halbdämmer dräute, das rotflammende Haupt gesenkt und die Hände gefaltet. Bei harmloseren Vergehen (Naschen, Notlügen oder Kraftausdrücke) hielt ich mich länger auf, um die heikleren schneller abzuhaken oder gar zu überspringen, verstummte schließlich in der Hoffnung, er gebe sich mit meinem Geständnis zufrieden, und Stille breitete sich aus, noch bedrohlicher durch das leise Knacken des hölzernen Beichtstuhls, der engen, stickigen, düsteren Kiste, in der noch die Ausdünstungen meiner Vorgänger hingen, Angstschweiß nicht reumütiger, sondern ertappter Sünder, spürte plötzlich ein Kribbeln in einem vom Knien auf dem harten Brett wohl eingeschlafen Bein, das bald bis hoch zur Hüfte verräterisch vibrierte, als habe mir Gott, dem ja nichts verborgen blieb, diese Durchblutungsstörung geschickt, um seinem Stellvertreter hienieden kundzutun, daß ich das Schlimmste verschwiegen hatte, ja, für den Gottesmann mußte mein Geheimnis jetzt offen zutage treten, denn er hob abrupt sein großes Haupt, und ich hörte einen Halswirbel knacken. Seine hellblauen Augen durchbohrten mich wie Röntgenstrahlen, und er fragte mich mit Baßstimme, ob das alles sei, wobei die Mahnung mitschwang: leugne nicht vor Gottes Angesicht!, so nachdrücklich, daß ich wirklich in der Klemme steckte, heftig zu schwitzen begann und einen so trockenen Mund bekam, als werde mir die Spucke durch den Schweißausbruch entzogen. Ja, gab ich heiser zu, ich sei unkeusch gewesen, und der Gottesmann erlaubte mir erst mal, mich zu räuspern, was ich auch ausgiebig tat. Doch dann ging das Verhör erst richtig los: mit dem Hinweis, er könne mich nur freisprechen, wenn ich alles zur Sprache brächte, nahm mich der Gottesmann ins Kreuzverhör, forschte mich aus, und ich, nun völlig widerstandslos, gab willfährig Auskunft, sogar dankbar dafür, mein Gewissen erleichtern, die Last meiner übelsten Verfehlungen abwälzen zu können, so daß ich mich hinterher ganz frei und leicht fühlte und ein Glück wie lange nicht mehr spürte, als ich endlich die Absolution und eine überraschend milde Buße auferlegt bekam. Draußen fragten mich die anderen, warum es so lange gedauert habe, ob ich so viel auf dem Kerbholz gehabt hätte, aber ich schwebte leichten Herzens an den Spöttern vorbei und kniete mich vor den Altar, um meine Bußgebete abzuhalten – als ich sie erblickte: Karin, auf der anderen Seite. Sie kniete auch, das Gesicht zu den gefalteten Händen geneigt, und ich, vom Gefühl meiner eigenen Reinheit durchdrungen, schaute zu ihr hinüber wie zum Ursprung aller Helligkeit, als gehörte sie zu den Engeln, die ich mir von jeher in ebensolcher Schönheit vorgestellt hatte.

 

Damals war ich fromm und kämpfte gegen sündige Verlockungen, die mich immer wieder schwach werden ließen, so daß ich auf verlorenem Posten stand und manchmal schier verzweifelte. Die Bilder in der Kinderbibel hatten einen starken Eindruck auf mich gemacht, das strahlende Dreieck am sternenübersäten Firmament, aus dem das Auge des Allmächtigen hervorblitzte, der alles sah, oder der in Purpur gehüllte Weltenrichter auf goldenem Thron über düsteren Wolken, die Rechte mahnend erhoben, in der Linken die Erdkugel mit einem Kreuz darauf, das Symbol für die Leiden seines eingeborenen Sohnes, der Liebe predigte, ganz anders als dieser Greis, der grollend herabblickte, umschwebt von himmlischen Heerscharen, makellosen Cherubim in weißen Gewändern, die, unfreiwillig komisch, an Nachthemden erinnerten, und unter dieser Wolkenzitadelle erstreckte sich das irdische Jammertal, eine felsenzerklüftete Landschaft mit brennenden Städten, aufgerissenen Gräbern im Vordergrund, aus denen sich Verdammte wälzten, magere Gerippe, denen das Knochenklappern und Zähneknirschen anzusehen war. Unvergeßlich, wie der Herrgott die Hände gebieterisch über die kochenden Himmelsschleusen ausbreitete und schäumende Wassermassen Täler und Hügel verschlangen, strampelnde Menschen von Zinnen und Türmen rissen, während Noah betend auf den Planken seiner Arche kniete und ein Nashorn stoisch in die Sintflut glotzte, und beim Weiterblättern der Babelturm, wie er zusammenstürzte, Mensch und Vieh zerschmetterte, von droben mit herabgeschleuderten Blitzen, Feuerspeeren, niedergemacht. Oder Heuschreckenschwärme verdunkelten die Sonne, fielen in das blühende Land ein, begruben Busch und Feld, brachten Tod und Zerstörung, trieben Mensch und Tier vor sich her und hinterließen eine Wüstenei. Da schoß im Sturzflug eine schneeweiße Taube auf Maria hernieder, was aussah, als würde sie gleich von oben bis unten durchbohrt, aber sie faltete lächelnd die Hände und schaute vertrauensselig mich, den Betrachter, an, der vorwärtsblätterte, den Heiland erblickte, der eine klaffende Brustwunde hatte, aus der das Herz hervorsah, mit Schwert und Lichtkeilen durchbohrt, grausig anzusehen, ebenso die rubinrot leuchtenden Nagelmale an Händen und Füßen sowie die Dornenkrone, die sein Haupt umkrallte, während Blut wie Schweißperlen herunterrann: er schwitzte Blut und Wasser im Garten Gethsemane – für mich schwamm dieses Gesicht mit dem des Leidensmanns auf Golgatha stets zu einem ungeheuerlichen Schmerzensantlitz zusammen. Nicht nur diese Bilder hatten mich geprägt, auch die ständigen Ermahnungen, der unermüdliche Vergleich des irdischen Daseins mit einem dornigen, steinigen, steil ansteigenden Pfad, der mitten durch das Erbsündengebirge führte, vorbei an den Schluchten des Lasters, den Fallgruben Luzifers, und daß der Mensch nur ein erbärmlicher Wurm sei, ein schwacher Pilger, dem Bösen eine leichte Beute – hätte der barmherzige Schöpfer nicht seinen fleischgewordenen Sohn herniedergeschickt, der durch seinen Opfertod all unsere Sünden auf sich nahm und uns davon erlöste, müßten wir in der ewigen Verdammnis schmoren. Eindringlich wirkte auch die Vorstellung auf mich, Jesus wohne in unserem Herzen – dabei gab es doch bloß einen Jesus und zahllose Herzen: vermehrte er sich etwa, so wie wie man von einem Negativ beliebig viele Abzüge machte, und wirkte er in mir, wenn ich mich glücklich fühlte, etwa nach der Beichte oder der heiligen Kommunion, wobei er durch die Hostie in mich hineingelangte? Aber nur der Gottesmann war bevollmächtigt, sie zu segnen, also Gott auf sie herabzubeschwören, bevor er sie auf meine Zunge legte, die ich andächtig zurückzog, und ich wagte nicht zu kauen, um den flachen, runden, wie Eßpapier schmeckenden Leib des Herrn nicht zu versehren, der sich auflöste, bis ich den ganzen Mund voll Speichel hatte, den ich schließlich runterschlucken mußte – jetzt erst hatte ich Teil an der göttlichen Gnade und Herrlichkeit und war gefeit gegen höllische Einflüsse. Doch damit sie nicht ihre Wirkung verlor, mußte die Zeremonie ständig wiederholt werden, was nur kraft der Autorität des Mittlers zwischen uns und Gott geschehen konnte, weshalb er einen ganz besonderen Platz einnahm.

 

Eines Abends kam der Gottesmann, in Zigarrenqualm wie in Weihrauch gehüllt, zu uns in die Gruppe, wobei er den Kopf in der Tür einziehen mußte, weil er groß, ja, riesig war. Die Nonne sauste aufgescheucht durch die Gegend, mit flatterndem Schleier, brachte den klotzigen Kristallaschenbecher und eine Flasche Cognac, richtiges Feuerwasser, das der Gewaltige wie Limonade runterkippte, ohne in Brand zu geraten. Da saß er, ganz in Schwarz, eine dicke Zigarre in der Hand mit dem großen Siegelring, den Schwenker in der anderen, herabgestiegen von der Kanzelhöhe in die Niederung des Tagesraums, in dem sein Baßlachen grollte, begafft von uns Jungen, und er winkte uns zu sich, auch mich, ja komm schon, mach einen Diener, reich ihm die verschwitzte Hand, nicht so feige, au, hatte der einen Händedruck, und ich zog sie ihm aus der haarigen Pranke, gegen die meine Pfote nackt und winzig wie die meines Hamsters wirkte. Auch war ich geschrumpft wegen der letzten Beichte, ach, wie genierte ich mich vor dem Duzfreund Gottes, zu dem selbst die Nonnen, ranghöchste Autoritäten, ehrfurchtsvoll aufschauten. Das rote Haar umgab sein Haupt wie eine Gloriole, doch er grölte und zwickte uns auf eine Weise, die nicht zu seiner Würde paßte, auch nicht die Art, wie er später, beim Essen, unter uns saß, hemdsärmelig, schwitzend, die Ellbogen aufgestützt: irgendwie unangebracht, aus der Fassung geraten – irritierend, wie er sich jetzt gebärdete, kumpelhaft, Witze reißend, die ganz und gar nicht stubenrein waren und für die uns die Nonne den Kleiderbügel zu schmecken gegeben hätte. Jetzt ließ er sogar den Jungen neben sich aus seinem Bierglas trinken, Teufelszeug, aber nicht für ihn, besaß er doch die Gabe, alles Satanische zu neutralisieren, aus Alkohol Wasser zu machen, wie Jesus seinerzeit umgekehrt Wasser in Wein verwandelt hatte. Doch beim Beten, nach dem Essen, wurde er wieder ernst, wischte sich die breite Stirn mit einem  seidenen Taschentuch mit eingesticktem Monogramm, senkte den Kopf mit geschlossenen Augen zu den gefalteten Händen, um sich zu sammeln, und strahlte nun wahre Würde aus, was mich sehr erleichterte, fügte sich mein derangiertes Weltbild doch jetzt wieder zusammen: ein’ feste Burg wie unser Gott. Allerdings nicht für lange, denn hinterher angelte er, frei nach dem Motto, Lasset die Kindlein zu mir kommen, nach uns Jungen, daß es ein Erstaunen für mich war, während er im Sessel thronte, von uns umringt, und er erwischte Christian, zog ihn zu sich auf den Schoß und kitzelte ihn durch, jedenfalls hielt ich sein Gegrabsche erst dafür, bis Lothar mir ins Ohr flüsterte, er gehe ihm zwischen die Beine. Widerstrebend schaute ich genauer hin: tatsächlich gerieten die Riesenpranken manchmal wie zufällig zwischen die mageren Schenkel, während Christian kreischte, sich wand und krümmte und dabei unwillkürlich einen fahren ließ, worauf ihn der Mann lachend zurückstieß, jetzt nicht mehr rot, sondern fast violett im Gesicht mit der großporigen Haut, aus der an Kinn und Wangen rötliche Bartstoppeln starrten – sogar auf dem Nasenrücken, der bucklig ins wilde Brauengestrüpp führte, sprossen Härchen, die wie gekrümmte Insektenbeinchen kreuz und quer in die Höhe standen. Auch aus den Nasenlöchern und Ohren wucherten Büschel rostroter Borsten: es war wie bei einem Vexierbild, das, je nach der Blickeinstellung, von einer Fee in eine Hexe umkippte und umgekehrt. Überhaupt war er dort, wo sein Leib aus den Kleidern schaute, dicht behaart, ob an den sommersprossenübersäten Armen unter den aufgekrempelten Ärmeln, am Schienbein unter der hochgerutschten Hose mit der scharfen Bügelfalte oder auf der Brust, die er beim Lockern des Schlipses und Öffnen des obersten Hemdknopfes freigelegt hatte: ein struppiges Vlies, orangefarben wie das Fell eines Orang-Utans – o, ich verdrängte hastig den schlimmen Gedanken, müßte ich ihm das doch nächstens beichten. Der Gottesmann ließ die Jungen jetzt in Ruhe, holte sein goldenes Etui aus der Tasche, nahm eine Zigarre heraus, deren Spitze er mit einem schnippenden Apparat abkniff, ehe er sie, gewaltig paffend, in Brand steckte, befeuchtete das eingekerbte Mundstück mit vorgestülpten Lippen und stellte, die Wolken auseinanderwedelnd, Fragen an uns, wobei er sich seines Wissens aus dem Beichtstuhl bediente, jedenfalls bei mir, denn er brachte mich durch Andeutungen und Augenkniepen in Verlegenheit, während die anderen Jungen grinsten. Hoppla, schnappte er mich, und ich hopste, halbtot vor Angst, auf seinen Knien, während seine dicken Finger auf mir Orgel spielten und ein Brausen in mir verursachten – da rief mich die Nonne zum Abtrocknen, und verwirrt machte ich mich von ihm los.

 

Er kommt gleich noch, um uns Gutenacht zu sagen, prophezeite Lothar, und tatsächlich: kaum war das Licht im Schlafsaal gelöscht, tauchte der Gottesmann auf, das heißt, in der schwarzen Anzugsjacke, die er jetzt wieder anhatte, war er in der Dunkelheit kaum zu erkennen, höchstens an dem weißen Kragen, der gespenstisch phosphoreszierte, auf- und abtauchte, wenn er sich von einer Bettkante erhob oder auf eine niederließ, wobei er unterschiedlich lange sitzenblieb, wollte er doch, wie er angekündigt hatte, heute höchstpersönlich überprüfen, ob wir uns auch gewaschen hatten, und mancher war dreckig an den Füßen, am Hals oder anderswo (wie stellte er das in der Finsternis bloß fest – aber konnte er nicht wie der Herrgott alles sehen?), weshalb er mit den einen schneller fertig war, den anderen jedoch eindringlicher ins Gewissen reden mußte. Es dauerte so lange, daß ich beim Warten auf seinen Besuch trotz aller Aufregung schließlich einschlief und im Schlaf wohl um mich schlug, denn plötzlich schrak ich auf, weil mich jemand festhielt wie in einem Fangnetz und mich unter meiner Decke in die Matratze drückte, mit einem Gewicht wie ein Berg, und als ich aufschreien wollte, legte mir der Gottesmann die Hand auf den Mund und wisperte, ich solle still sein und die anderen nicht wecken.

 

Ergeben wartete ich ab, was nun passieren würde, hypnotisiert von dem Gebrumm des Gottesmannes, der gekommen war, um Gericht über mich zu halten, umso erschreckender, als kein mit Cellophan überzogenes Scherengitter schützend zwischen mir und dem Stierschädel war, dessen rotflammendes Haar ich im Dunkeln zwar nur im Geiste sah, aber dafür roch ich konkret seine Ausdünstung nach Zigarre und Cognac, und der Atem stockte mir, als er so dicht an meinem Ohr zu raunen begann, daß ich die Haare auf seiner Nase zu spüren meinte. Unwillkürlich drehte ich den Kopf weg, worauf sich der Griff seiner Hand lockerte, die dann, als ich mich nicht weiter rührte, zu streicheln begann, was mich auf eine ganz andere Weise überraschte, ebenso intensiv, aber nicht erschreckend, sondern angenehm: so hatte mich noch niemand angefaßt, und ich bebte unter der Hand, bog mich in sie hinein, sehnsüchtig nach ihren Liebkosungen, den Sensationen auf meiner Haut, dem aus dem Nichts gezauberten Feuerwerk, implodierend in meinen bisher so belanglosen Körper, der nunmehr ein Instrument zu sein schien, auf dem himmlische Choräle erklangen, eine herrliche Musik unter den gesegneten Händen des Gottesmannes, die so geschickt wie einst David auf seiner Harfe auf mir spielten, und ich schmiegte mich in die Finger des göttlichen Harfners, wollte mehr, war der leibhaftige Tempel des Herrn, seine verklärte Wohnstatt, Höhepunkt aller Inbrunst, Gipfel heiligster Gefühle, die dann vergingen in seliger Mattigkeit, gebenedeiter Erschöpfung – da riß mich die Ermahnung des Gottesmannes aus dem süßen Dämmer, ich dürfe mich nicht selber berühren, also beflecken, niemals Satans Versuchung erliegen, auch keinem von dem gerade Erlebten erzählen, ob ich ihm das verspreche, und ich schwor es.

 

Hielt ich mich auch an meinen Schwur, so gut ich konnte, faßte ich mich sogar beim Urinieren kaum noch an, sondern setzte mich wie ein Mädchen auf die Klobrille, die ich, weil meistens vollgepinkelt, vorher saubermachen mußte, war doch meine Begierde erwacht, durch die Berührungen des Gottesmannes – sie erst hatten dieses Löcken ausgelöst, den Stachel im Fleisch zum Auferstehen gebracht, der juckte wie eine nicht heilende Wunde, selbst wenn ich ihn nur mit dem Waschlappen berührte, woraus gleich eine unkeusche Handlung wurde, da er sich unwillkürlich regte, auch wenn ich mich dafür schlug, kniff und kratzte, nein, er war nicht kleinzukriegen, im Gegenteil: die Erregung staute sich noch mehr auf und mußte zur Abfuhr gebracht werden, aber nicht durch mich, denn das war lasterhaft, sondern durch den Gottesmann, jenseits von Gut und Böse, der sich meinetwegen beschmutzte, um mich von dem Übel zu befreien, ach, wie schämte ich mich meiner Schwäche, doch zu meiner Schande wünschte ich mir die Verführung des Teufels auch stets aufs neue herbei, damit sein Gegenspieler, der Gottesmann, mir den sündigen Kitzel wieder nahm, mich dann segnete und sich anschließend, wie ich mir vorstellte, meine Unreinheit mit unterdrücktem Ekel von den geweihten Händen wusch – ein selbstloser, unermüdlicher Streiter um meine Seele.

 

Als ich den Gottesmann das erste Mal besuchen durfte, schloß mich seine Haushälterin sofort ins Herz, die mir gleich ein Hemd von ihm umnähte, rosarot, mit aufgestickter schwarzer Rose, mir Manschettenknöpfe mit Perlmutt schenkte, einen Schlips aus Seide und ein Jackett mit goldenem Innenfutter, und so ausstaffiert, dazu in meiner besten Sonntagshose, meinen glänzendschwarzen Lackschuhen, die mit meinem pomadisierten Haar um die Wette glänzten, kam ich mir vor wie ein Prinz, der bisher inkognito, in abgewetzter Lederhose und grobem Baumwollhemd, herumgelaufen war, jetzt aber sein wahres Wesen zeigte, geadelt durch die Gunst des Gottesmannes, zu seinem Liebling auserkoren, der ich mich frei in dem großen Haus bewegen und seine Kostbarkeiten bewundern konnte, wie der Nibelungenschatz von der alten Frau überwacht, die trotz ihrer Güte auch etwas von einem Drachen hatte und erschreckend häßlich war. Bewaffnet mit Staubwedel, Putztuch, Möbelpolitur oder Polsterbürste, humpelte sie schleimabhustend durch die Räume, und in ihrem Echsengesicht funkelten die dicken Brillengläser wie Lupen, die ihre trüben, von geplatzten Äderchen durchzogenen Augäpfel so verzerrten und vergrößerten, daß sie wie bei einer Kröte hervorzuquellen schienen. Ich hatte anfangs richtig Angst vor ihr, auch Widerwillen gegen sie, doch das alles verlor sich schnell: ihre furchteinflößenden Runzeln glätteten sich, wenn sie mich anblickte, den schüchternen Jungen aus dem Heim, den sie umsorgte und verwöhnte. Scheu huschte ich in den prächtigen Räumen wie in einem goldenen Käfig umher und wagte nichts anzufassen: alles schien mir heilig wie in der Kirche, und ich traute mich kaum, mich in den grünen Samtsessel mit den Quasten und Borten zurückzulehnen und mich in mein Abenteuerbuch zu versenken, wozu mich die Haushälterin aufgemuntert hatte, saß vielmehr aufrecht auf der Kante und konnte vor innerer Anspannung das Gelesene nicht erfassen.

 

Später wurde ich zu Bett ins Gästezimmer geschickt, wo auch der Gottesmann alsbald erschien, den ich tagsüber nicht gesehen hatte, war er doch ein vielbeschäftigter Mann, ständig unterwegs in irgendeiner Mission, doch kaum zurückgekehrt, kümmerte er sich um mich, nachdem die Haushälterin fortgegangen war und dadurch ein Gefühl der Verlassenheit und Beklemmung in mir ausgelöst hatte. Hier gab es keine schützende Dunkelheit wie im Jungenschlafsaal, sondern alles lag offen im grellen Lampenschein: unter den Augen seiner Eltern in der eingerahmten Fotografie schälte der Gottesmann mich gleichsam ans Licht, indem er mich auszog, wobei herauskam, daß ich mich mit dem Deostift, entdeckt im Spiegelschrank im Bad, im Intimbereich eingerieben hatte – es klebte da, und er roch es sofort und begann mich dort gründlich zu waschen. Weil er schon dabei war, erteilte er mir Hygiene- und Aufklärungsunterricht, der mit dem von mir ersehnten Höhepunkt, neuen Vorsätzen und dem Gefühl der Läuterung endete – nur seine Eltern störten mich dabei, die mich aus der verglasten Fotografie anstarrten, streng, mit knochigen, altersstarren Gesichtern. Ich war froh, daß sie hinter Glas gesperrt und in der Finsternis kaum zu sehen waren, löschte schnell das Licht, drückte das kleine Transistorradio an mein Ohr, drehte am Rädchen, und im Rauschen und Knattern sang Tom Jones: It’s good, to touch the green, green grass of home.

 

Manchmal tauchten auch Neffen des Gottesmannes auf, meist Jungen mit langen Haaren und weichen Gesichtszügen, die mit mir keine nähere Bekanntschaft schließen, erst recht nicht über persönliche Dinge reden wollten, was ich verstand. Doch was mich wunderte, war, daß ich den Mann vor ihnen siezen, ihn aber duzen sollte, wenn er mit mir allein war. Auch ihre Vertraulichkeit mit ihm hinter verschlossener Tür kränkte mich, und ich lauschte, das Ohr an die Tür gedrückt, auf ihr Murmeln und Kichern. Ich stellte mich schlafend, wenn sie zurückkamen und in ihren Notbetten unter die Decke krochen, und hätte sie gern gefragt, was sie gemacht hatten, doch ich konnte es mir denken, und darüber zu sprechen, war natürlich ausgeschlossen, so wie ich selber nie mein Geheimnis verraten hätte.

 

Der Gottesmann hatte einen Ford Capri, silbermetallic, mit dem er pfeilschnell dorthin gelangte, wo Gott ihn hinschickte, ein moderner Gottesbote mit durchgedrücktem Gaspedal, in den Ledersitz hineingegossen wie in einen maßgeschneiderten Handschuh, während ich, nahm er mich hin und wieder mit, auf dem Beifahrersitz wie in einem zu großen Schuh herumrutschte und unter dem Sicherheitsgurt weggeglitten wäre, wenn ich mich nicht daran festgeklammert hätte, denn Gott hatte es mal wieder überaus eilig, seinen Stellvertreter irgendwo hinzukatapultieren, nicht mit goldenem Gewitterblitz, sondern mit dem PS-starken Silberpfeil, hui, welch ein Rasen! Das stand dann im umgekehrten Verhältnis zu seiner gravitätischen Gemächlichkeit am Ankunftsort. Hier verfiel er plötzlich in Zeitlupe, bewegte sich in würdevoller Gemessenheit, schritt, ganz Respektperson, die Stufen zur Wohnung einer gläubigen Familie hinauf, und die mit seinem Besuch Beehrten respondierten nicht mit Kniebeugen und Gebetsformeln, aber mit beflissenen Höflichkeitsfloskeln und unterwürfiger Bescheidenheit, schoben ihre Schäfchen nach vorn, die einen demutsvollen Diener machten, Jungen, so hübsch wie die Puppengesichter im Katalog für Knabenwäsche, daß ich sie neidisch anstarrte, während sie maskenhaft zurückstarrten, mit verstohlenem Zucken um Mandelaugen und Kirschlippen, als sagten sie mir mit stummen, wissenden Mienen, sie wüßten sehr wohl, welche Rolle ich spiele, schämten sich auch für die Bücklinge ihrer Eltern - aber am meisten verachteten sie mich. Ich fühlte mich angespien von ihren scheinheiligen Blicken, hätte den Gottesmann am liebsten verleugnet, wie Petrus einst Jesus, ehe der Hahn krähte, doch hier gab es keine Hähne, dafür Glockengeläut, das jetzt von draußen hereinklang und den hohen Gast an andere Pflichten erinnerte: er hatte ja noch einen Abendgottesdienst zu halten, verabschiedete sich hastig, tätschelte verschwörerisch samtweiche Wangen (so hatte er es auch bei uns im Heim gemacht), und dann brausten wir zurück in Gottes Silberpfeil, den doch tatsächlich ein Polizist anzuhalten sich anmaßte, mit winkender, rotleuchtender Kelle, wegen überhöhter Geschwindigkeit, wie er erklärte, ein gutaussehender junger Mann, der mal ein bildschöner Junge gewesen sein mußte – bestimmt kannte der Gottesmann auch diesen einstigen Cherub, jedenfalls stieg er aus, sprach vertraulich mit ihm, gab sich wohl zu erkennen (Du warst doch mal Meßdiener bei mir!), und der Strafzettel verschwand so diskret, wie er vorher eindeutig ausgestellt worden war, woraufhin wir uns beeilten, die bereits versammelte Gemeinde nicht noch länger warten zu lassen.

 

Hatte der Gottesmann mal Zeit, gab er der Haushälterin für den Nachmittag frei und machte nach dem Mittagessen einen Verdauungsschlaf, wobei er mich aufforderte, es ebenso zu halten, aber nicht im Gästezimmer, sondern bei ihm auf dem Sofa – keine Widerrede! Er ließ die Jalousien herunter, zog sich aus, wie ich im Zwielicht beobachtete, hängte seine Sachen über den sogenannten Kleiderknecht, ein komisches Wort, und stand im halblangen Unterzeug unschlüssig herum, kolossal und dicht behaart: so hatte ich mir immer Esau vorgestellt. Ich wickelte mich in meine Decke und stellte mich schlafend, in der Hoffnung, er möge in seine ächzende Bettengruft steigen und mich in Ruhe lassen, aber meist vergeblich: auch heute kam er zu mir, doch diesmal war es anders. Hatte er mich sonst nur berührt, entblößte er sich jetzt völlig, und da ich ihn noch nie so gesehen hatte, gingen mir die Augen über angesichts seiner Enormität in allem. Zuletzt saß ich kerzengerade auf dem Sofa und glotzte, zwar mit Widerwillen, aber doch fasziniert, wie er sich anfaßte, erst behutsam, dann immer unbeherrschter. Ich war unfähig, mich zu rühren, als er auf mich zukam, mit seiner gigantischen Fleischblume, die einen durchdringenden Geruch verströmte, wie die Stinkwurz, die, wie ich im Biologiebuch gelesen hatte, mit ihrem Gestank Insekten anlockte, eine Titanenwurz, die eigentlich nur im Urwald vorkam, wo auch sonst alles monumental war, so wie dieser Mann, der mir nun nicht mehr als Gottgesandter erschien – ach, egal: ich war vielzu erregt, um darüber weiter nachzudenken, und atmete, hypnotisiert, seine säuerliche Ausdünstung ein. Er rutschte dicht zu mir, drückte mich an sich, wobei er mich überall kratzte, besonders mit den Bartstoppeln, während er mich, rückwärts gefallen, grunzend auf sich zog, und seine feuchten Lippen glitschten wie Weinbergschnecken über mich, verwandelten sich in küssende Saugnäpfe, die Ekel und Gier in mir weckten. Er wogte, und ich spürte das Pochen in seiner breiten Brust, die kreiselnden Bewegungen des Baumstamms unter mir – ich sollte ihn jetzt berühren, aber das konnte ich nicht, und ich zappelte mich frei, entkam diesem Mahlstrom. Verschanzt hinterm Kleiderknecht, sah ich zu, wie er nicht von sich lassen konnte, was ich von mir selber kannte, und weitermachen mußte bis – ja, bis er sich abputzte und im Bad verschwand.

 

Er lud mich nicht mehr zu sich ein, und erst Jahre später sahen wir uns wieder: ich brauchte ein Leumundszeugnis für die Gewissensprüfung, fragte ihn telefonisch, ob er mir eins ausstellen würde, und er lud mich zum Essen ein. Nicht nur ich hatte mich verändert, auch der Gottesmann: sein einst so dichtes rotes Haar, das wie eine Feuerzunge zu Pfingsten auf seinem Stierschädel geflammt hatte, war grau und dünn geworden. Wir standen uns fremd gegenüber – nur seine Haushälterin begrüßte mich herzlich: steinalt nun, noch runzliger, aber sonst unverwüstlich, wie es so Echsenart ist. Einsilbig zog sich das Essen hin, und erst danach, als er sich eine Zigarre angezündet hatte und ein Junge hereingestürmt kam, der Sohn des neuen Küsters, wie ich erfuhr, lebte der Gottesmann auf: hoppla, schnappte er ihn, und schon ritt er auf seinen Knien. Ich räusperte mich, und er beauftragte den Jungen, die Kirchenglocken per Knopfdruck zum Läuten zu bringen, ging dann in sein Büro, kam mit dem schon vorbereiteten Schreiben zurück und übergab es mir mit den Worten, eigentlich sei er gegen die Wehrdienstverweigerung und habe früher sogar Militärgeistlicher werden wollen, es sich dann aber doch anders überlegt. Bist statt dessen Gottesmann im Kinderheim und Pfarrer in einer Gemeinde mit kinderreichen Familien geworden, erwiderte ich nicht laut, dachte es aber, als ich den Brief dankend in Empfang nahm, und in dem Krankenhaus, wo ich dann meinen Zivildienst leistete, lernte ich eine Schwesternschülerin kennen, mein erstes Mädchen: sie hatten mich schon immer interessiert – doch das ist eine andere Geschichte.

 


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