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Mahlzeit!

Natürlich sind wir genötigt, aufgrund unserer Armut, die wir uns durch unseren Eigensinn selbst eingebrockt haben – Kurt in seinem Wahn, die Welt in seiner ihm eigentümlichen Sprache zu reflektieren, und ich in meiner Unfähigkeit, eine Berufsausbildung erfolgreich zum Abschluß zu bringen, er vom ihm verhaßten Staat unterstützt und ich dank diverser von mir verabscheuter Gelegenheitsarbeiten notdürftig über Wasser gehalten – natürlich sind wir genötigt, Billig- oder sogar Umsonstangebote jeder Art anzunehmen und uns so durch unsere eigenverschuldete, wenig Spielraum bietende Bedürftigkeitsexistenz zu schlagen.

Ein solches Freikostangebot ist die Mütze, das heißt die in diesem Kärglichkeitsetablissement untergebrachte Suppenküche, offenstehend für Notleidende, Obdachlose und arme Schlucker wie uns, die sich auch lieber ein Mehrgängemenü im Crown-Plaza-Hotel leisten und dort vorzugsweise residieren würden, was uns unserer Selbsteinschätzung nach eigentlich sogar zustände, würde sich unsere Gesellschaft, dieses am Abgrund stehende Wahngebilde, nicht ristriktiv dagegen stemmen und uns notfalls mit destruktiven Mitteln von seinen Bütteln aus dem Vier-Sterne-Lokal entfernen lassen – weshalb wir uns auch erst gar nicht des sinnlosen Versuchs unterfangen haben, die Crown-Plaza-Restauration statt der Mütze aufzusuchen, und folglich, nach einer nervenaufreibenden Straßenbahnfahrt mit übervoll besetzten Wagen, hier gestrandet sind.

Die Mütze ist, wie schon angedeutet, eine Anlaufstelle für Habenichtse und Tagediebe im Verständnis des im Spießbürgerlichen Integrierten, für tragisch Gescheiterte beziehungsweise aus ihrer Geniebahn Geworfene aus unserer Perspektive, einerseits für Gesocks, andererseits für Originale, je nach der Sichtweise, für uns eher eine Freistatt für buntscheckiges Volk, wobei wir durchaus Unterschiede in dieser Underdog-Vielfarbigkeit machen, uns also auch hier, genau wie möglicherweise im Crown-Plaza, manchem Mitspeisenden überlegen dünken, ja im Grunde der Meinung sind, daß uns auch hier der gebührende Respekt, die unserer inneren Größe gemäße Anerkennung verweigert wird, weshalb wir sozusagen inkognito Reisende beziehungsweise Ankommende sind, unbekannt und deshalb unverehrt in dem Sinne, daß niemand unseren wahren Wert auch nur im entferntesten ermißt.

     Kurzum. Wir nehmen Platz in dieser Suppenküche mit der Wahl zwischen Linsen- und Erbsensuppe, handfeste Gerichte, durchaus geeignet, die von einem Vakuum nach innen zusammengeschrumpfte Magengrube anzufüllen und somit wieder auseinander zu stemmen, uns also zu sättigen, natürlich nicht mit sogenannten Delikatessen, und da wir auf derlei Luxus ohnehin seit ehedem verzichtet haben, würde uns die karge Abfütterung hier auch nicht weiter tangieren, wenn wir uns einfach nur den Bauch vollschlagen könnten – jedoch, und das ist der springende Punkt: jedoch sind weder Kurt noch ich in der Lage, sowohl Linsen- als auch Erbsensuppe zu uns zu nehmen, aus den unterschiedlichsten Gründen, Kurt wegen eines seiner Hypersensibilität geschuldeten überempfindlichen Magens, welcher ständig Magengeschwüre beherbergt, umgangssprachlich auch Ulkusse oder Ulki genannt, ulkige Küsse könnte man assoziieren, und tatsächlich sind es grausame Schleimhautküsse, die ihn heimsuchen und sich wie Welse an seinem Innenfleisch angedockt haben, seine Körpersäfte aufsaugende Abszesse, die ihm, parallel zu ihrem Pendant, den Gedankenabszessen oder auch Tumoren in seinem Kopf, aufs rascheste leiblich wie geistig aus- und aufzuzehren im Begriff sind.

Bei mir ist die Linsen- beziehungsweise Erbsensuppenunverträglichkeit auf weit in meiner Kindheit wurzelnden Traumata zurückzuführen, die im einzelnen hier zu untersuchen jede Dimension sprengen würde, weshalb es nicht näher erläutert werden soll. Festzustellen ist nur die Tatsache, daß ich aufgrund einer frühkindlich entwickelten Allergie sowohl psychischer als auch physischer Art außerstande bin, eine wie auch immer zusammengekochte Hülsenfruchtsuppe in mich hineinzulöffeln, selbst auf die Gefahr hin, daß ich ansonsten, also im Falle der Nahrungsverweigerung, dem Hungertod anheimzufallen drohe, denn, hier sei es eingestanden, wir haben wegen unserer durchaus mitverursachten Pleite in letzter Zeit so gut wie nichts mehr zu uns genommen. Kurt zehrt vom eigenen Fleisch, das heißt seine Ulküsse oder ulkigen Abszesse schmarotzen in ihm, so daß er geradezu von zwei Seiten gleichzeitig aufgefressen wird, einmal von seinen Kopfzuständen und zum anderen von seinen Bauchentzündungsherden. Dagegen bin ich lediglich das Opfer frühkindlicher Neurosen, die, das kann ich aus eigener Erfahrung versichern, eine Art fleischfressende Pflanzen sind, Psychorosen mit konkreten Rosendornen: zwar seelisch bedingt, wirkt sich der traumatische Schaden aber doch auch fleischlich auf den von ihm Befallenen aus, denn das menschliche Gesamtkonstrukt ist überhaupt ein psychosomatisches, und seine Geistes- und Fleischesgrenzen sind fließend.

     Während wir mit Leidensmiene beziehungsweise Unglücksgrimasse auf die selbsthergestellte, mit kindlich ungelenken Blumengirlanden geschmückte Speisekarte mit diesen beiden Suppenalternativen starren, meldet sich in unserem Rücken eine Frauenstimme, was sage ich, ein menschliches Geräusch, das an aufkreischende Kreissägen erinnert. Sie als Schwerbehinderte habe ein Recht darauf, die Behindertentoilette zu benutzen, zetert eine Frau mit Schlapphut – ein uns völlig absurd erscheinender Anspruch, wenngleich sie darauf mit penetranter Wiederholung besteht. Dem widersetzt sich der glatzköpfige Kellner, der uns soeben noch umdienert hat: warum wuselte er um uns wie eine Crown-Plaza-Bedienung, wo hier die Speisen doch unentgeltlich gereicht, er auf ein wie auch immer geartetes Trinkgeld also gar nicht spekulieren kann? Mit Brummtönen wie von einem unangenehmen Bohrgeräusch weist er den Anspruch der Schlapphütigen zurück. Kreissägenkreischen mit der Forderung nach freiem Zugang für Schwerbehinderte auf Behindertentoiletten wird also niedergedröhnt von abstreitendem Bohrerbrummen.

Worum geht es? Sie, die von sich behauptet, schwerbehindert zu sein, aber noch nicht mal leichtbehindert ausschaut, höchstens leicht verrückt in ihrem Schlapphut und darunter dem Karnevalskostüm, einem aus einem großblumig gemusterten Gardinenstoff über ihr Knochengerüst drapierten Kleid, und deshalb verlangt, daß das in diesem Haus befindliche Behindertenklosett ständig, ausnahmslos, immer, frei für ihre Bedürfnisse zur Verfügung stehen müsse, da sie sonst bei ihrer nur eingeschränkt funktionierenden Schließmuskulatur gegebenenfalls unweigerlich unter sich lassen müsse – wird von dem glatzköpfigen, vor ihr keineswegs liebedienerischen Serviceangestellten zurückgewiesen, der sich die Freiheit, so er, die Frechheit, so sie, herausgenommen hat, als Nichtbehinderter die Behindertentoilette benutzt zu haben, weil im Moment seiner Notdurft die Toilette für Normalbenutzer gerade besetzt gewesen sei, ein ihm zustehendes Recht, das er noch mit dem Argument untermauert, er stehe zudem im Aktivdienst, also in der Sorge, ja Pflicht, die Hungrigen unverzüglich zu verköstigen, was er aber nicht zu leisten vermöge, wenn er seinen Darm- beziehungsweise Blasendrang nicht auf der Stelle befriedigen könne. Das sagt er zugegebenermaßen nicht wörtlich, aber doch sinngemäß, und ihr schlapphütiger, auf Stöckelschuhen trippelnder Contrapart, das exaltierte, blumengemusterte Gerippe, spricht ihm dieses Recht rundheraus ab und besteht zum wiederholten Male darauf, diesmal mit auf Turbogang hochgestelltem Kreissägenkreischen, das uns fast die Trommelfelle zersprengt, sie als Schwerstbehinderte (jetzt steigert sie den Grad ihrer Behinderung auch noch verbal) habe ein im Grundgesetz verankertes, unumstößliches, gottgewolltes Recht auf freien, absolut unbehinderten Zugang zur Behindertentoilette. Als hätte sie einen Sprung in der Platte, wiederholt sie nun mit ihrem äußerst unangenehm auf uns einschrillenden Organ: Schwerstbehindertenrecht auf Behindertentoilette, und der Versuch sich einmischender Unbeteiligter, sie zu beruhigen, schleudert sie mit ihrem hysterischen Gekreisch nur noch vorwärts und würde sie in einen sie niederschmetternden Kollaps hinauskatapultiert haben, wenn nicht, sozusagen auf dem Höhepunkt der übergeschnappten Auseinandersetzung, Kurt aufgestanden wäre und den Stimmenwirrwarr mit leiser Stimme durchdrungen hätte, die sich wie Stahlsaiten eines Eierschneiders durch den Geräuschkloß mit den Worten säbelt, er als Magen-und-Kopf-Schwerstbehinderter habe zwar, genauso wie ich, sein seit Kindertagen an Traumata schwerstgeschädigter Freund, ebenfalls Anspruch auf eine Behindertentoilette, aber einen noch viel dringlicheren auf unverzügliche, und zwar behindertengerechte Atzung. Er sagt tatsächlich Atzung – ein Lieblingswort von ihm.

Während er noch spricht, steht er auf, nein wächst er hinter der Tischplatte empor zu seiner vollen Körpergröße, wenngleich seine Geistesgröße eine noch viel enormere ist, wächst, sage ich, geistigerseits nur für mich sichtbar, bis zur Saaldecke empor, körperlich aber, für jedes Auge erfaßbar, bis zu seiner einmeterfünfundneunziger Größe in die Höhe. Mit seiner nach wie vor durchdringenden Eierschneiderstimme fährt er fort, er wäre dankbar, hätte er bloß eine Schließmuskelschwäche sowohl blasen- als auch darmseits, was als Schwerstbehinderung auszugeben er allerdings als schamlose Übertreibung betrachte, wohingegen seine und meine, seines Freundes, seelischen wie innerleiblichen Schwerstbehinderungen zwar ebenso wenig wie Schließmuskelschwächen sichtbar seien, dennoch aber einen wirklichen Anspruch auf entsprechende, unsere Gebrechen berücksichtigende Verköstigung hätten, ein Recht, das hier gröblichst verletzt werde, weshalb wir uns nunmehr genötigt sähen, diese Armeleuteklitsche zu verlassen und uns den Tauben, den sogenannten Ratten der Lüfte, zuzugesellen und mit ihnen den Kampf ums Dasein auszufechten, also uns mit ihnen um die von überfressenen Wohlstandspassanten weggeschmissenen Brotrinden und Wurstzipfel zu balgen, wollten wir nicht unmittelbar aus unserem Schwerstbehindertendasein ins nachbarliche Nirwana hinüberwandeln.

Mahlzeit! ruft er schneidend und jeden etwaigen Einwand gleichsam prophylaktisch köpfend, woraufhin wir erhobenen Hauptes diese Schwerstbehindertenkomödie verlassen, überaus lockenden, wenn wir Glück haben, am Boden zerplatzten Pommes-Tüten entgegen.


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