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Die Erbsünde

Der Schlafsaal war in drei sogenannte Zellen mit jeweils sechs Betten durch halb hohe Bretter unterteilt und vorn mit einer Wand aus Schränken zum Flur hin getrennt.

     Über die Bretterwände flogen vor dem Zubettgehen die Kissen von einer Zelle in die andere. Die Wände wurden gestürmt wie die Mauern einer feindlichen Burg. Die Jungen im Schlafanzug stießen Kriegsschreie aus, schwangen sich hinüber, landeten im Bett auf der Gegenseite und teilten Hiebe und Tritte aus. Sie wurden selbst mit Püffen eingedeckt und klommen wieder die Wand hoch, um sich auf die andere Seite zu retten. Dabei verloren manche die Schlafanzugshose: ihre Gegner hängten sich daran, rissen sie von dem auf der Bretterkante zappelnden Leib und schwangen sie wie eine Trophäe.

     Die Nonne erschien – husch, wurde die Hose über die Wand geschmissen, allerdings mit verknoteten Beinen, so daß der Besitzer mit bloßem Hintern auf seiner Bettkante saß und sie fieberhaft aufknüpfte.

     Was ist hier los! wollte die Nonne wissen. Sie witterte Unrat, packte den Halbnackten am Ohr und führte ihn hinaus zum Waschraum. Klatschen. Quieken wie von einem Schwein auf der Schlachtbank.

     Abendgebet. Die Jungen standen im Halbkreis vor dem Kruzifix vorne im Flur. Einige verdrehten die Augen nach oben, nicht weil sie da Engel oder den Sandmann sahen – sie waren einfach genervt von den endlosen Litaneien.

     Lutz aber linste nach unten, auf die Hosen ringsum. Mein Gott, waren die zum Teil bepißt – und riechen tat das! Aber das war noch nichts gegen die dreckigen Käsemauken in den offenen Schlappen. Es stank wie im Schweinestall, und er wünschte sich wie Winnetou und Old Shatterhand hinaus in die freie Prärie.

     Damals liefen diese Karl-May-Filme im Kino. Die Jungen im Heim hatten sie zwar nicht gesehen, aber es gab Bildchen davon, ganze Serien, die jede Sequenz festhielten. Sie gaben ihnen im Zusammenhang mit den Schallplatten eine genaue Vorstellung von den Abenteuern im Wilden Westen. Besonders die Phantasie von Lutz wurde dadurch beflügelt. Er träumte schon wieder und schmückte sich die Handlungen aus: wie er sich als Old Shatterhand an ein feindliches Lagerfeuer heranschlich, um seinen Blutsbruder, der am Marterpfahl sterben sollte, zu befreien.

Eine andere Vorstellung – seine liebste, bei der er immer schluchzen mußte – war der Moment, als Rattler auf Winnetou anlegte und Klekih-petra sich als Kugelfang dazwischenwarf. Wenn die Nonne in der Klausur war, stieg ein Junge auf den Schrank oder die Zwischenwand, wobei er sich mit den Handflächen an der Decke abstützte, und brüllte: Winnetou, tschabba tschabba, ich schütze dich! – Die Jungen unten schossen aus ihren imaginären Gewehren, und Klekih-petra, vom Kugelhagel halb umgedreht, fuhr sich mit der Rechten zur Brust, taumelte kurz hin und her, und dann fiel er, uff, der Länge nach mit einem Krach in das Bett direkt darunter – affengeil!

Eine Kopfnuß brachte ihn zurück in die Realität, direkt vor das große Kruzifix. Die Nonne guckte grimmig, und Lutz setzte sein verlogenes Reuegesicht auf. Dann linste er dem Schmerzensmann unter den Lendenschurz: nichts zu sehen – hatte der Figurenschnitzer nicht ausgeführt. Oder Jesus war geschlechtslos gewesen – den Nonnen zufolge bestimmt!

Wer nicht richtig die Hände faltete, herumhampelte oder in der Nase bohrte, kriegte ebenfalls eine Kopfnuß: kleine Schläge auf den Hinterkopf fördern das Denkvermögen, kommentierten sie das mit verzerrtem Grinsen – Mensch, das zwiebelte!

Auch jetzt machten die Argusaugen der Nonne die Runde. Jeder, der von ihnen erfaßt wurde, erstarrte in Scheinheiligkeit.

Im Namen des ... Schwanzes, der Titten und der heiligen drei Löcher, flüsterte Lothar direkt hinter ihm, und Lutz sah aus den Augenwinkeln, wie sich bei dem Schwein etwas Weißes aus dem Latz schob: Lothar hatte also die Unterhose anbehalten. Das war zwar verboten, aber Lutz wollte es nächstens auch so machen: dauernd bimmelte sein loser Pimmel heraus, und die anderen zogen ihn damit auf.

Die Nonne starrte herüber, und Lothar schlug blitzschnell die Hände davor, hielt sie also nicht mehr in betender Haltung – zack, fing er sich eine.

Die Augen der Nonne, Habichte in der Luft, verkrallten sich in das Weiße, das jetzt aus Lothars ungedecktem Stall schaute, und ihr Blick wurde eine düstere Prophezeiung: Bürschchen, wir sprechen uns noch!

Sie redete vom Teufel in der Welt. Der Kommunismus war eine Offenbarung von ihm. Man konnte ihn nur bannen, wenn alle zusammen inbrünstig zum Liebengott beten würden. Sie sah fanatisch in die versteinerten Knabengesichter, und ihre Züge wurden bitter: niemals würde das Böse verschwinden, wenn sich nicht mal diese kleine Schar zu echter Andacht erheben konnte.

 

Dieter war sein Banknachbar in der Schule. Er sah mädchenhaft aus mit seinen für Jungen unerlaubt langen Haaren – und süß wie eins war er auch: das brachte Lutz gegen ihn auf, und gleichzeitig spürte er eine verstörende Sehnsucht. Beides zusammen ergab ein widersprüchliches Gefühlsgemisch – einmal wollte er ihn verkloppen und dann wieder umarmen. Prügeln war in Ordnung – das andere weiberhaft, und das machte ihn noch aggressiver.

     Die Lösung kam Lutz wie ein Blitz: Blutsbrüderschaft – unangenehm zwar, aber auch herrlich aufregend. Dieter wollte lieber Winnetou sein. Das paßte auch besser zu seinen glatten Haaren, obwohl die golden wie ein Heiligenschein leuchteten und nicht rabenschwarz wie die von einem Indianer waren. Aber das Jesuskind war ja auch goldlockig gewesen, obwohl es aus einer Gegend stammte, wo es keine Blonden gab.

     Je nach Stimmung spielten sie die beiden Schlüsselszenen. Einmal den Zweikampf, wobei Winnetou sein Messer in Old Shatterhands Hals stieß. Allerdings hielt Lutz sich im Eifer des Gefechts nicht an das Drehbuch, sondern zog seinem Blutsbruder eins mit dem Bärentöter über, der sich daraufhin mit der Silberbüchse revanchierte, und die Wundergewehre verwandelten sich in Ritterschwerter (Excalibur und Balmung – sie kannten die Artussage und das Nibelungenlied ebenfalls von Langspielplatten), die sie wild gegeneinander schlugen.

     Ein andermal spielten sie Klekih-petras Sterbeszene – Winnetous Tod ging ja nicht: dann wäre alles aus gewesen, und außerdem war das viel zu traurig. Klekih-petra, der weiße Vater und Lehrer, in dessen Rolle Lutz schlüpfte, obwohl ihm die von Old Shatterhand lieber war – wenngleich...

     Er war also sterbend zusammengebrochen, nachdem er sich für seinen Liebling geopfert hatte. Nahe am Herzen war er in die Brust getroffen – es erinnerte fast an die Wunde von Jesus. Winnetou legte die Stelle bloß, während sein Freund die Augen zukniff und die Wonnen der Ewigen Jagdgründe vorkostete – buchstäblich: er bekam eine Gänsehaut. Gut, daß sie Lederhosen anhatten – der glänzende Panzer verdeckte alles.

     Winnetou nahm seinen Kopf in den Schoß: der knarzte und roch nach Leder. Auf der Platte hieß es: noch ein krampfhafter Bluterguß aus der Wunde – in Wirklichkeit war es für Lutz ein ganz anderer erster Erguß, den er eines Tages dabei hatte. Die Sünde hatte sich nicht als Kommunismus, aber als Eiter aus ihm ergossen, wie er entsetzt feststellte, als er sich mit der Ausrede, pinkeln zu müssen, in die Büsche geschlagen hatte.

     Jetzt begriff Lutz, was mit Befleckung gemeint war. Er mußte Buße tun. Überall zeigte sich das Böse: als Weißes aus Lothars Schlafanzugshose, aber auch als satanische Verführung in Dieters mädchenhaftem Winnetougesicht. Im Begriff, es sanft zu berühren, ballte sich seine Hand plötzlich zu Old Shatterhands berüchtigter Schmetterfaust, und der Blutsbruder wurde dieser Bezeichnung gerecht: ganz und gar mit Blut beschmiert war er – jetzt war Lutz noch viel verworfener, sozusagen sündig an sich: das also war die Erbsünde.

     Er wollte Dieter um Verzeihung bitten. Der trat ihm in die Eier. Etwas explodierte in Lutz – jetzt wäre er gern totgetreten worden, doch Dieter tat ihm nicht den Gefallen: schniefend zog er ab, und im Klassenzimmer ließ er sich an einen anderen Platz versetzen.


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