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Mahlzeit!
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Friedhof
 

Niedergang

 

Ihre Arme und Beine waren zu kurz, die Füße verkrüppelt und die Hände verkümmert: nur der Daumen und die zu einer Klaue zusammengewachsenen übrigen Finger – sie gingen wie Krebszangen auf und zu, und auf den Daumenhälften krallenartige Hornauswüchse, blutrot lackiert. Sie reichte mir die Hand, klebrig vor Schweiß und Schmier, und ich mußte mich beherrschen, nicht zurückzuzucken. Große Flecken auf ihrem Jogginganzug: eingetrockneter Urin – penetranter Gestank. Unglaublich korpulenter Leib, festgeklemmt im quietschenden E-Rollstuhl mit kaputten Lichtern.

     Ihr Betreuer ein Typ mit Goldzahn, Goldkettchen, Siegelringen, sonnenstudiogebräunt, angegrautem Kraushaar, faltengekerbtem Gesicht und, im Gegensatz zu ihr, duftend nach herbem Rasierwasser: zwei unvereinbare Gerüche, die sich zu einem paradoxen Gemisch vermengten, das mich nötigte, durch den Mund zu atmen. Er hatte angeblich immer noch Termine, marschierte mit Westernstiefeln auf und wieder ab, ohne mich bezahlt zu haben, und eine Telefonnummer hatte er mir auch nicht gegeben, geschweige denn seine Adresse. Je nach Lust und Laune bestellte er mich in irgendeine U-Bahnstation, kreuzte mit endloser Verspätung dort auf, klaubte ein eingerolltes Geldbündel aus seiner Hosentasche, blätterte einen Lappen davon ab, ließ mich den quittieren und war wieder verschwunden, ehe ich nach meinem restlichen Honorar fragen konnte.

     Also, Sturmklingeln. Meist zog ich wieder ab, weil sie einfach nicht öffnete. Wenn doch, haute mich ein Geruch in ihrer Wohnung um, wie ich mir den einer dampfenden Müllkippe vorstellte – genau so sah es hier aus. Mittendrin diese obskure Gestalt, im Halbdämmer. Blendende Strahlen durch die Ritzen des runtergelassenen Rouleaus, von Zigarettenqualm verschluckt, zu einem grauen Nebel verwabert. Oft hatte sie nicht aufgemacht, um mich reinzulassen. Vielmehr wollte sie gerade weg, und weil ich schon mal dastand, machte sie sich nicht die Mühe, die Tür zu schließen, sondern fuhr quietschend an mir vorbei, ohne mich auch nur gegrüßt zu haben.

     Brechreiz. Fenster vor lauter Abfall kaum erreichbar. Klamotten wegschieben, Bahn schaffen. Ekelhaft das alles. Verschwand sie nicht, weil es draußen regnete oder sie schon wieder blank war, irritierte sie mich im grell unterm hochratternden Rolladen hereinplatzenden Licht, das diese Höhle (oder Hölle) jetzt brutal ausleuchtete, wie ein Nachtmahr: dumpf, elefantös – ich mußte mich zwingen, sie nicht als Ungeheuer zu betrachten. Aber ihr Anblick war wenn auch kein Schock, so doch immer wieder ein Erschrecken. Schnell sah ich weg, kämpfte mich zum einzig zu öffnenden Fensterflügel vor: Luft!

     Da hockte sie, stumm, verpanzert, wie aufgestöbert in ihrem dreckigen Winkel. Wände und Decken graugelb vom Nikotin, der sich mit dem Staub zu einer zähen Substanz verbunden hatte, die wie ein Firnis an allem haftete, so daß sich alles klebrig anfühlte: die Zeitschriftenstapel, kaputten Elektrogeräte, hüllenlos in Ständern stehenden Schallplatten, Stehlampen, Kerzenständer, Nippessachen, Überreste wie aus einer Wohnungsauflösung, sinnlos übereinandergestapelte Stühle, Kommoden, zusammengerollte Teppiche, Beistelltischchen, eine komplette Couchgarnitur, die manchmal als Nachtlager für die Obdachlosen diente, die sie mitgebracht hatte, abenteuerliche Gestalten, so verdreckt und verklebt wie alles hier, als gehörten sie zu den schmutzstarrenden Puppen und Teddybären, einer davon so groß wie ein ausgewachsener Mensch, schräg in einem der Sessel: Hindernisse im Raum, durch den sie mit ihrem Rollstuhl kaum hindurchkam, nur mit geschicktem Zickzackfahren, oder sie rammte einfach ein Möbelstück und schob es aus dem Weg, wenn sie etwa ins Bad wollte, wo sich die dreckige Wäsche mannshoch türmte, und nur eine Bahn zum verstopften Klo hin freigeräumt war, in dem bis zum Rand die Jauche stand, die, schwappte sie über, in den Tiefen des Wäschebergs versickerte, wo scheinbar der Abfluß der Naßzelle in den Fliesen war, zugehäuft mit schon in Schimmel übergegangenen Lumpen.

Wie bei aufgehender Sonne das Nachtgetier von der Bildfläche verschwindet, so taumelten, wenn ich ein Rouleau hochzog, nicht nur die Penner nach draußen, deren leere Flaschen ich anschließend einsammelte, sondern verschwanden auch dicke Spinnen in ihren Winkeln, flitzten ganze Völkerwanderungen von Asseln in ihre Verstecke, und sogar Mäuse huschten übers Linoleum, wie im Wettlauf mit den ebenfalls grau über den Boden huschenden Staubflusen, während sie den ersten Laut von sich gab: einen satten Rülpser, gefolgt von einem noch satteren Furz. Meine Vorschläge, dies oder das zu unternehmen, blockte sie ausnahmslos ab. Stoisch wie ein Buddha ruhte sie in sich, ein uneinnehmbarer Berg, der sich nur nach eigener Lust und Laune auf quietschenden Rädern hier- oder dorthin bewegte, meist in die entgegengesetzte Richtung von mir, während ich mich nützlich machen wollte. Doch es fehlte an allem: Waschpulver, Putzmittel, Schrubber, Aufnehmer – der, den ich vorfand, rottete  verkrustet und stinkend in einer Ecke vor sich hin und erwies sich beim Anheben mit zwei Fingern als eine äußerst turbulente Insektenwelt. Also ging ich daran, ihr verwühltes Bett herzurichten, fuhr aber zurück vor der uringetränkten Roßhaarmatratze mit einem riesigen Loch in der Mitte, aus dem nicht nur Sprungfedern ragten, sondern in dem auch Maden wimmelten. Ich stürzte Hals über Kopf zum Telefon, um das Gesundheitsamt oder sonst einen Zuständigen anzurufen, aber das Kabel war aus der Wand gerissen: sie war, als sie sich mit dem Rollstuhl darin verheddert hatte, einfach weitergefahren, und als ich für einen neuen Anschluß gesorgt hatte, machte sie es wieder. Als dann der Schaden nicht auf der Stelle behoben wurde, brach sie in wilde Beschimpfungen über die Schlamperei aus – tatsächlich sollte der dritte herausgerissene Anschluß (der Stördienst gab ihr wegen eines Feiertags nicht sofort einen Termin) verhängnisvoll für sie werden.

     Tausenderlei mußte organisiert werden. Überall war etwas defekt. Fernseher, Waschmaschine, Deckenbeleuchtung – nichts funktionierte richtig. Beim Einschalten des versifften Herds gab es einen Kurzschluß. Hatte ich etwas in Ordnung bringen lassen oder organisiert, z.B. einen Ersatzrollstuhl, damit ihr eigener abgeholt und repariert werden konnte, war das Teil bald wieder in demselben desolaten Zustand wie zuvor, so daß es sinnlos schien, mich überhaupt noch um etwas zu kümmern. Außerdem bekam ich trotz all meiner Leistungen nur Ablehnung, Mißtrauen, ja, Haß von ihrer Seite zu spüren. Hinzu kamen meine Schwierigkeiten mit der Bürokratie, wenn ich beispielsweise Geldgutscheine beim Amtsgericht zu erwirken suchte, um mit ihr nicht nur ein neues Bett zu kaufen, sondern auch Wäsche, ein Regencape, Bettzeug – worauf ein nervenaufreibendes Feilschen um die Finanzierung folgte, was mich oft resignieren und nach anderen Alternativen Ausschau halten ließ: Kleiderkammern von Wohlfahrtsverbänden – aber jetzt stellte sie sich quer, kam es für sie überhaupt nicht in Frage, gebrauchte Sachen anzunehmen, und sie verzichtete dann lieber ganz auf einen Ersatz für etwas gar nicht Vorhandenes, etwa einen Mantel, der wie neu aussah. Nicht mal das Notwendigste zum Putzen konnte ich ergattern, und ihr Betreuer machte für sowas kein Geld locker – also kaufte ich vom eigenen Geld Aufnehmer und Bodenreiniger. Allerdings durfte ich selber kein Großreinemachen veranstalten: dafür war ein Zivi zuständig, der zweimal in der Woche für zwei Stunden kommen sollte, aber nur jeweils fünf Minuten blieb, in denen er mit ihr eine Zigarette rauchte, worauf er sich das Ableisten der Gesamtzeit von ihr schriftlich bestätigen ließ, indem sie ein ausgefülltes Formular unterschrieb – und der Sunnyboy machte sich aus dem Staub, sprang in sein Cabrio, das er zum Abi bekommen hatte, und düste davon, während sie ihm lächelnd nachwinkte mit ihrer Klaue, in der immer noch ihr Kuli blitzte, mit dem sie meine Stundenzettel nicht quittierte, weshalb ich dauernd Schwierigkeiten hatte, meinen Lohn zu bekommen. Wie sollte sie meine Anwesenheit auch bestätigen, wenn sie sich bei meiner Ankunft meist sofort mit dem Hinweis entfernte, sie störe hier ja doch bloß? Hinterher bemerkte sie noch nicht einmal, daß ich ihr neue Gardinen aufgehängt hatte, während sie auf Betteltour in der Nachbarschaft gewesen war, wie ich dann von den Leuten erfuhr, die mich über dem Jägerzaun ihres Grundstücks herbeiwinkten und wissen wollten, ob es stimme, daß sie kein Geld mehr bekomme und sich nicht mal was zu essen kaufen könne.

Auch die junge Frau vom sozialpsychiatrischen Dienst beachtete sie nicht. Es war ein merkwürdiges Bild, die Behinderte über einen Stapel Papier gebeugt und endlose Schleifen darauf malen zu sehen: sie konnte stundenlang auf diese Weise „schreiben“, ohne es wirklich zu tun, denn was sie da aufs Papier malte, waren Kringel und Wellen, Striche und Bögen, die Buchstaben nur imitierten, in ihren Verschlingungen aber scheinbar nichts zu bedeuten schienen, außer vielleicht Geheimzeichen für sie – während die andere, ein Bein über das andere geschlagen, vorgebeugt daneben saß, geduldig zuschaute, ein Gespräch in Gang zu bringen versuchte, ohne daß sie auch nur eines Wortes gewürdigt wurde, sie, so hübsch und gesund, wie die Rollstuhlfahrerin häßlich und krank wirkte, und ich hantierte unterdessen in der Wohnung herum, kratzte an den verkrusteten Herdplatten oder den Kalkstein aus der Kloschüssel und wünschte mir, das Mädchen vom sozialpsychiatrischen Dienst hätte wenigstens einen Bruchteil jener Aufmerksamkeit für mich übrig wie für ihre sie total ignorierende Klientin.

Die ohnehin schon verfahrene Situation wurde noch verschärft durch die neue Regelung, daß die ihr zustehende Sozialhilfe nach Abzug aller Lebenshaltungskosten jetzt nicht mehr monatlich mit einem Mal, sondern nur noch wochenweise ausgezahlt werden sollte, da sie ihr Geld nicht einteilen konnte: gleich fuhr sie damit zur nächsten Frittenbude, setzte den Rest in Süßigkeiten, Salzgebäck und Cola um, konsumierte alles noch am selben Tag und hatte für den Rest der Woche nichts mehr zu essen und zu rauchen. Der Betreuer wollte ihr das alles nicht persönlich sagen, sondern es ihr über mich mitteilen lassen, doch ich weigerte mich. Also mußte die psychologisch geschulte Fachkraft ran, und prompt kriegte sie die geballte Ladung Haß ab. Die Wütende fuhr mit ihrem Rollstuhl gegen die Möbel, warf sich in ihm hin und her, stieß Verwünschungen aus, bis sie nur noch röchelte und einen Erstickungsanfall bekam, woraufhin ich ihr das Mundstück des Zerstäubers zwischen die blauen Lippen schob und mehrmals drückte, damit die Sprühstöße ihr den Krampf in den Bronchien lösten. Wieder zu Atem gekommen, startete sie eine Attacke gegen die vermeintliche Diebin, die sich nur noch durch Flucht retten konnte und die nächste Zeit hier nicht mehr aufkreuzen durfte – nein, sie hatte bei ihr verschissen, und ich hätte das auch, wenn ich nicht den Geldboten gespielt und ihr das Almosen, wie sie es nannte, in die bedrohlich zuschnappende Klaue gesteckt hätte, worauf sie mit quietschenden Rädern davonfuhr und mir mit der freien Hand ein Zeichen machte, das nur der Eingeweihte als Stinkfinger verstand.

Sie öffnete mir nur noch zum Wochenanfang, wenn ich mit dem Geld ankam, und wollte ich, schon mal in ihrer Wohnung, mit dem Aufräumen und Saubermachen beginnen, schmiß sie mich raus, es sei denn, ich brachte ihr ein Päckchen Zigaretten auf meine Kosten mit – aber das zog auch nur die erste Zeit. Also verlegte ich mich darauf, sie in die Imbißbude eines Asiaten einzuladen: der einzigen, wo sie wegen ihrem Uringestank noch kein Hausverbot bekommen hatte – doch wir durften nur draußen sitzen (sie wäre mit ihrem sperrigen Rollstuhl ohnehin nicht in die enge Bude hineingekommen), und so saßen wir in den Abgasen der Niehlerstraße, stumm wie zwei Grabsteine, während sie ihr Getränk in einem Zug austrank, das Schaschlik mit wenigen Happen vom Holzspieß abzog und wieder weg wollte, sobald sie fertig war, egal, ob ich noch vor der kaum angerührten Portion meiner Fritten saß: die schob ich ihr dann auch noch hin, aber nur, wenn sie mich nachher wenigstens eine Waschmaschine voll Wäsche waschen ließ.

Ich hätte nicht geglaubt, daß es das gibt, aber sie dünstete tatsächlich nicht nur üble Körpergerüche aus, sondern auch Wolken von Depression, Niedergang und Verrottung, eine derart negative Energie, daß ich davon infiziert wurde und, sobald ich bei ihr war, Selbstmordwünsche bekam. So ging das nicht weiter: ich wollte diesen Job schmeißen – da bekam sie eine Thrombose, mußte für mehrere Wochen ins Krankenhaus, und ich verschob fürs erste meine Kündigung, besuchte sie dort und fand sie zum ersten Mal geschrubbt und gebadet in einem schneeweiß bezogenen Bett vor: ein so freundlicher Anblick, daß ich unwillkürlich lächelte und ihr freudig Blumen, Chips und Weintrauben überreichen wollte. Doch sie beachtete meine Geschenke gar nicht, sondern verlangte sofort ihr wöchentliches Taschengeld. Ich zuckte entschuldigend die Schultern: hatte der Betreuer ihr das nicht gebracht? Da stellte sie stumm den Fernseher an der Zimmerdecke mit der Fernbedienung an, stellte ihn laut, um klarzumachen, daß sich jedes weitere Gespräch erübrigte, schaute sich einen Zeichentrickfilm an und stopfte die Chips in sich hinein. Na dann – ich zog die noch eingeschweißte Zigarettenschachtel aus meiner Hemdtasche, spielte damit herum und ließ sie wieder verschwinden. Zack, war die Flimmerkiste wieder aus. Sie wälzte sich in ihren Rollstuhl, obwohl sie ihr dickes Bein hochgelagert halten sollte, und fuhr schnurstracks in den Raucherraum. Dort rauchte sie schweigend eine nach der anderen, bis ich mich erhob, einen Abschiedsgruß murmelte, den sie nicht erwiderte, und mich verdrückte.

Kurz nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus hatte sie einen psychotischen Schub. Diesmal sollte es länger dauern, einige Monate, und ich brachte Kleidungsstücke in einer großen Reisetasche in die Psychiatrie, wo sie sich dem Personal genauso verweigerte wie uns draußen in ihrer Wohnung, so daß sie von morgens bis abends in einer Ecke hockte, kannenweise Kaffee trank und rauchte, was sie von anderen schnorren konnte. Ich war ihr bloß als Nachschublieferant für Tabak willkommen, und sie kriegte einen Wutanfall, als ich wieder mal kein Geld für sie dabei hatte. Beim Verlassen der Station fing mich die junge Ärztin ab und verlangte etwas Ungeheuerliches von mir: ich solle ihren Betreuer anzeigen, der, das sei allgemein bekannt, ein notorischer Betrüger sei und sich an seinen Klienten schamlos bereichere. Warum sie oder andere das nicht machten, wollte ich wissen, und sie erklärte, sie stehe unter Schweigepflicht und könne in ihrer Situation nicht so handeln, wie sie gerne möchte. Wenn aber ich den Mann anzeigte, so ich zu ihr, würde er den Spieß umdrehen, mich wegen Verleumdung verklagen, und außerdem bekäme ich dann keinen Cent mehr von dem Geld, das er mir noch schulde, erwiderte ich, bedauerte und ging.

Dieser Mann, mit dem ich mich nicht anzulegen wagte, rief mich nach einigen Wochen an und erklärte, die Wohnung der Behinderten müsse für ihre Entlassung in Ordnung gebracht werden. Ich antwortete, die Frau gehöre in ein psychiatrisch betreutes Heim und nicht in ihre alte Umgebung, wo sie mit Sicherheit einen neuen Schub bekommen würde. Ich ließ mich mal wieder breitschlagen und schüttele mich noch heute, denke ich an die Drecksarbeit, die ich mir da aufgehalst hatte, besonders an das verfaulte, zum Auftauen in den Ofen gestellte Hähnchen, das von Maden wimmelte: es verbreitete einen Gestank, an den ich bald darauf auf eine grausige Weise erinnert werden sollte.

Sie kam zurück, und ihre Wohnung, von mir unter Brechreiz einigermaßen auf Vordermann gebracht, sah bald wieder so verwahrlost wie eh und je aus. Mir unterstellte sie übrigens, dies und das gestohlen zu haben, und ich konnte mich gegen diesen Verdacht nur wehren, indem ich darauf hinwies, daß die Tür auf ihren eigenen Wunsch hin aufgebrochen worden war, so daß jeder ungehindert hineingelangen konnte. Knapp einen Monat später (die Tür war längst repariert) ging ich an einem Montagmorgen zu ihr, um das übliche Wochengeld bei ihr abzuliefern. Außerdem war ich mit dem Mann von der Post verabredet, der ihren wieder einmal herausgerissenen Telefonanschluß in Ordnung bringen sollte. Eigentlich hatte er die Reparatur schon am Freitag durchführen sollen, doch da war Tag der Deutschen Einheit – also ging es erst jetzt. Da stand ja auch schon der Monteur, genervt, weil ihm nicht aufgemacht worden war, und er zog fluchend ab, als sie auch auf mein Klopfen und Bitten nicht öffnete. Wie oft hatte ich schon hier gestanden, mir die Knöchel wund geschlagen und die Stimme aus dem Hals gerufen – doch diesmal war es anders: immerhin hatte ich heute Geld für sie, und das nahm sie gewöhnlich schon am Hauseingang in Empfang, um gleich damit abzudüsen. Etwas stimmte nicht – auch meinte ich einen süßlichen Verwesungsgeruch wahrzunehmen – hatte sie wieder ein vergammeltes Hähnchen im Ofenrohr? Ich ging zum Hausmeister, der beim Ausbessern der Tür ein neues Schloß eingesetzt und davon sicherheitshalber einen Zweitschlüssel zurückbehalten hatte – doch damit ließ sich die Tür von außen nicht aufschließen: ihr Schlüssel mußte von innen noch stecken und sie somit in ihrer Wohnung sein. Sollte ich die Feuerwehr rufen? Und wenn die anrückte, käme sie womöglich von ihrer Betteltour um die Ecke gefahren und beschimpfte mich. Ich stieg über das zwei Meter hohe, zackenbewehrte Stahlgitter in den Vorgarten, um durch das Fenster oder die Terrassentür in die Wohnung zu gelangen oder wenigstens einen Blick hineinzuwerfen. Aber alle Rolläden waren heruntergelassen. Weil aber der Schlüssel innen im Schloß steckte und gleichzeitig der Hinterausgang von innen verrammelt war, wurde mir klar, daß sie sich in der Wohnung befand. Vielleicht war sie sturzbesoffen oder aus dem Rollstuhl gekippt – aber dann hätte sie doch irgendwelche Zeichen von sich gegeben.

Feuerwehr, Polizeifahrzeuge und Krankenwagen, alle mit Blaulicht, blockierten die Einbahnstraße. Männer in martialischer Kluft und Helmen mit offenem Kinnriemen und Nackenschutz marschierten dröhnend durch den Hausflur. Polizisten, blutjunge Burschen, nahmen meine Personalien auf. Dann erschienen ältere Männer, die sich als Kripobeamte auswiesen und Fragen stellten. Der Betreuer war wieder einmal nirgendwo zu erreichen - also hielten sie sich an mich. Doch ich verlor die Fassung und verstummte abrupt. Ich zog mein Notizbuch hervor, in dem alle Adressen standen, und einer der jungen Polizisten, dem die Sache hier ebenfalls an die Nieren zu gehen schien, lobte mich dafür, worauf ich mich umdrehen mußte und nur noch schweigend, mit Achselzucken, Nicken oder Kopfschütteln Antwort geben konnte. Ein Mann in Zivil schleppte eine riesige Werkzeugkiste herbei. Polizisten gingen mit gezückten Pistolen und Feuerwehrmänner mit bereitgehaltenen Gasmasken und Löschspritzen in Lauerstellung, als erwarteten sie eine ausbrechende Gangsterbande oder eine Explosion hinter der Tür, die der Mann mit dem Werkzeug nun aufbrach. Sie bewegte sich kreischend in den Angeln, dann Stille, während zugleich ein betäubender Gestank aus dem Spalt drang: so ähnlich hatte auch das verrottete Hähnchen gerochen. Mir schwante Böses, und mir wurden die Knie weich. Ich stützte mich auf die Fensterbank, atmete gierig die Frischluft ein und nahm den Tumult bloß noch nebelhaft wahr. Ein Weißkittel tauchte wie ein Gespenst vor mir auf, sprach mich an, aber ich zuckte verständnislos die Schultern, fragte mit trockenem Mund, ob sie da drin sei, worauf der Mann nickte, und das erste, was ich spürte, war Erleichterung darüber, keinen falschen Alarm ausgelöst zu haben. Doch dann wurde mir klar, was mir bevorstand, besonders als der Weißkittel wieder zu reden begann: er stellte sich als Arzt vor, der den Tod festgestellt habe, aber jetzt bräuchten sie einen Zeugen, der die Verstorbene identifizieren könne. Ich folgte ihm, nein, schwebte ihm nach wie auf Gas, hielt mir unwillkürlich die Hand vor die Nase und wäre geflohen, hätten meine Beine noch normal funktioniert. Der Arzt faßte mich unter, und ich sah die Frau von hinten mit einem Gefühl, als dröhne die Stille, als steige das Absolute in eisiger Schwärze vor mir auf, doch es war nur eine Schwäche, und ich riß mich fröstelnd zusammen. Sie war nur mit einem T-Shirt bekleidet, in ihrem Rollstuhl vornübergekippt, mit dem Gesicht in die hüllenlosen, aufrecht im Ständer stehenden Schallplatten hinein, deren scharfe Kanten ihre Wange verletzt hatten, wie ich sah, als der Arzt ihr Gesicht mit Gummihandschuhen anhob, das einen Ausdruck der Verblüffung zeigte, gepaart mit Entsetzen, wie ich an den hervorgequollenen Augen zu erkennen meinte, die trübe, gallertartig ins Nichts starrten, und die Zunge quoll dick und violett aus dem fahlen Gesicht, als hätte sie sie abbeißen wollen, um Luft durch das Loch der gespitzten, wie zusammengezurrten Lippen zu schnappen. Ob sie einen elektrischen Schlag bekommen habe, fragte ich möglichst sachlich und zeigte auf die herabhängende Hand, die nun wie eine Schweinepfote aussah und in diese Art Zehen auslief, die an der Spitze violett, fast schwarz waren, und das Handgelenk war blau angelaufen: eine Spur, die sich, immer schwächer werdend, am Oberarm verlor. Es seien die ersten Zersetzungserscheinungen, erklärte der Arzt behutsam, und ich staunte, daß schon nach so kurzer Zeit die Verwesung eingetreten war. Die überheizte Wohnung hätte dem Vorschub geleistet, sagte der Mann und reichte mir ein Schreibbrett, auf dem ich das festgeklemmte Blatt mit zittriger Hand unterschrieb. Ehe ich ging, sah ich, daß die Tote den Hörer des Telefons mit der anderen violetten Klaue umklammert hielt, und das kam mir wie ein Schuldspruch vor: hätte ich mich beherzter beim Stördienst durchgesetzt und wäre die Leitung schon letzte Woche in Ordnung gebracht worden, hätte sie vielleicht noch den Notruf anwählen können. Dann kamen Männer mit dem berühmten Zinksarg, den ich aus dem Fernsehen kannte, während ich Richtung Ausgang die Flucht ergriff.

Später rief mich der Betreuer an: die Wohnung müsse entrümpelt und ihr Rollstuhl, den die Leihfirma zurück haben wolle, gereinigt werden, ob ich das mache, und ich sagte erst zu, dann wieder ab, nachdem ich die immer noch nach Verwesung riechende Wohnung betreten, einen eingetrockneten Kothaufen im Rollstuhl vorgefunden und mich fast übergeben hatte.

 Einige Wochen darauf rief mich der Betreuer noch einmal an und verlangte zweihundert Euro zurück, die bei der Endabrechnung angeblich gefehlt hätten. Ich erklärte, nichts veruntreut zu haben, jede Ausgabe mit einer Quittung belegen zu können, und der Kerl drohte mir mit einer Anzeige. Dann sehen wir uns eben vor Gericht wieder, sagte ich, legte auf und hörte nie wieder was von ihm.

Ihre Arme und Beine waren zu kurz, die Füße verkrüppelt und die Hände verkümmert: nur der Daumen und die zu einer Klaue zusammengewachsenen übrigen Finger – sie gingen wie Krebszangen auf und zu, und auf den Daumenhälften krallenartige Hornauswüchse, blutrot lackiert. Sie reichte mir die Hand, klebrig vor Schweiß und Schmier, und ich mußte mich beherrschen, nicht zurückzuzucken. Große Flecken auf ihrem Jogginganzug: eingetrockneter Urin – penetranter Gestank. Unglaublich korpulenter Leib, festgeklemmt im quietschenden E-Rollstuhl mit kaputten Lichtern.

     Ihr Betreuer ein Typ mit Goldzahn, Goldkettchen, Siegelringen, sonnenstudiogebräunt, angegrautem Kraushaar, faltengekerbtem Gesicht und, im Gegensatz zu ihr, duftend nach herbem Rasierwasser: zwei unvereinbare Gerüche, die sich zu einem paradoxen Gemisch vermengten, das mich nötigte, durch den Mund zu atmen. Er hatte angeblich immer noch Termine, marschierte mit Westernstiefeln auf und wieder ab, ohne mich bezahlt zu haben, und eine Telefonnummer hatte er mir auch nicht gegeben, geschweige denn seine Adresse. Je nach Lust und Laune bestellte er mich in irgendeine U-Bahnstation, kreuzte mit endloser Verspätung dort auf, klaubte ein eingerolltes Geldbündel aus seiner Hosentasche, blätterte einen Lappen davon ab, ließ mich den quittieren und war wieder verschwunden, ehe ich nach meinem restlichen Honorar fragen konnte.

     Also, Sturmklingeln. Meist zog ich wieder ab, weil sie einfach nicht öffnete. Wenn doch, haute mich ein Geruch in ihrer Wohnung um, wie ich mir den einer dampfenden Müllkippe vorstellte – genau so sah es hier aus. Mittendrin diese obskure Gestalt, im Halbdämmer. Blendende Strahlen durch die Ritzen des runtergelassenen Rouleaus, von Zigarettenqualm verschluckt, zu einem grauen Nebel verwabert. Oft hatte sie nicht aufgemacht, um mich reinzulassen. Vielmehr wollte sie gerade weg, und weil ich schon mal dastand, machte sie sich nicht die Mühe, die Tür zu schließen, sondern fuhr quietschend an mir vorbei, ohne mich auch nur gegrüßt zu haben.

     Brechreiz. Fenster vor lauter Abfall kaum erreichbar. Klamotten wegschieben, Bahn schaffen. Ekelhaft das alles. Verschwand sie nicht, weil es draußen regnete oder sie schon wieder blank war, irritierte sie mich im grell unterm hochratternden Rolladen hereinplatzenden Licht, das diese Höhle (oder Hölle) jetzt brutal ausleuchtete, wie ein Nachtmahr: dumpf, elefantös – ich mußte mich zwingen, sie nicht als Ungeheuer zu betrachten. Aber ihr Anblick war wenn auch kein Schock, so doch immer wieder ein Erschrecken. Schnell sah ich weg, kämpfte mich zum einzig zu öffnenden Fensterflügel vor: Luft!

     Da hockte sie, stumm, verpanzert, wie aufgestöbert in ihrem dreckigen Winkel. Wände und Decken graugelb vom Nikotin, der sich mit dem Staub zu einer zähen Substanz verbunden hatte, die wie ein Firnis an allem haftete, so daß sich alles klebrig anfühlte: die Zeitschriftenstapel, kaputten Elektrogeräte, hüllenlos in Ständern stehenden Schallplatten, Stehlampen, Kerzenständer, Nippessachen, Überreste wie aus einer Wohnungsauflösung, sinnlos übereinandergestapelte Stühle, Kommoden, zusammengerollte Teppiche, Beistelltischchen, eine komplette Couchgarnitur, die manchmal als Nachtlager für die Obdachlosen diente, die sie mitgebracht hatte, abenteuerliche Gestalten, so verdreckt und verklebt wie alles hier, als gehörten sie zu den schmutzstarrenden Puppen und Teddybären, einer davon so groß wie ein ausgewachsener Mensch, schräg in einem der Sessel: Hindernisse im Raum, durch den sie mit ihrem Rollstuhl kaum hindurchkam, nur mit geschicktem Zickzackfahren, oder sie rammte einfach ein Möbelstück und schob es aus dem Weg, wenn sie etwa ins Bad wollte, wo sich die dreckige Wäsche mannshoch türmte, und nur eine Bahn zum verstopften Klo hin freigeräumt war, in dem bis zum Rand die Jauche stand, die, schwappte sie über, in den Tiefen des Wäschebergs versickerte, wo scheinbar der Abfluß der Naßzelle in den Fliesen war, zugehäuft mit schon in Schimmel übergegangenen Lumpen.

Wie bei aufgehender Sonne das Nachtgetier von der Bildfläche verschwindet, so taumelten, wenn ich ein Rouleau hochzog, nicht nur die Penner nach draußen, deren leere Flaschen ich anschließend einsammelte, sondern verschwanden auch dicke Spinnen in ihren Winkeln, flitzten ganze Völkerwanderungen von Asseln in ihre Verstecke, und sogar Mäuse huschten übers Linoleum, wie im Wettlauf mit den ebenfalls grau über den Boden huschenden Staubflusen, während sie den ersten Laut von sich gab: einen satten Rülpser, gefolgt von einem noch satteren Furz. Meine Vorschläge, dies oder das zu unternehmen, blockte sie ausnahmslos ab. Stoisch wie ein Buddha ruhte sie in sich, ein uneinnehmbarer Berg, der sich nur nach eigener Lust und Laune auf quietschenden Rädern hier- oder dorthin bewegte, meist in die entgegengesetzte Richtung von mir, während ich mich nützlich machen wollte. Doch es fehlte an allem: Waschpulver, Putzmittel, Schrubber, Aufnehmer – der, den ich vorfand, rottete  verkrustet und stinkend in einer Ecke vor sich hin und erwies sich beim Anheben mit zwei Fingern als eine äußerst turbulente Insektenwelt. Also ging ich daran, ihr verwühltes Bett herzurichten, fuhr aber zurück vor der uringetränkten Roßhaarmatratze mit einem riesigen Loch in der Mitte, aus dem nicht nur Sprungfedern ragten, sondern in dem auch Maden wimmelten. Ich stürzte Hals über Kopf zum Telefon, um das Gesundheitsamt oder sonst einen Zuständigen anzurufen, aber das Kabel war aus der Wand gerissen: sie war, als sie sich mit dem Rollstuhl darin verheddert hatte, einfach weitergefahren, und als ich für einen neuen Anschluß gesorgt hatte, machte sie es wieder. Als dann der Schaden nicht auf der Stelle behoben wurde, brach sie in wilde Beschimpfungen über die Schlamperei aus – tatsächlich sollte der dritte herausgerissene Anschluß (der Stördienst gab ihr wegen eines Feiertags nicht sofort einen Termin) verhängnisvoll für sie werden.

     Tausenderlei mußte organisiert werden. Überall war etwas defekt. Fernseher, Waschmaschine, Deckenbeleuchtung – nichts funktionierte richtig. Beim Einschalten des versifften Herds gab es einen Kurzschluß. Hatte ich etwas in Ordnung bringen lassen oder organisiert, z.B. einen Ersatzrollstuhl, damit ihr eigener abgeholt und repariert werden konnte, war das Teil bald wieder in demselben desolaten Zustand wie zuvor, so daß es sinnlos schien, mich überhaupt noch um etwas zu kümmern. Außerdem bekam ich trotz all meiner Leistungen nur Ablehnung, Mißtrauen, ja, Haß von ihrer Seite zu spüren. Hinzu kamen meine Schwierigkeiten mit der Bürokratie, wenn ich beispielsweise Geldgutscheine beim Amtsgericht zu erwirken suchte, um mit ihr nicht nur ein neues Bett zu kaufen, sondern auch Wäsche, ein Regencape Bettzeug – worauf ein nervenaufreibendes Feilschen um die Finanzierung folgte, was mich oft resignieren und nach anderen Alternativen Ausschau halten ließ: Kleiderkammern von Wohlfahrtsverbänden – aber jetzt stellte sie sich quer, kam es für sie überhaupt nicht in Frage, gebrauchte Sachen anzunehmen, und sie verzichtete dann lieber ganz auf einen Ersatz für etwas gar nicht Vorhandenes, etwa einen Mantel, der wie neu aussah. Nicht mal das Notwendigste zum Putzen konnte ich ergattern, und ihr Betreuer machte für sowas kein Geld locker – also kaufte ich vom eigenen Geld Aufnehmer und Bodenreiniger. Allerdings durfte ich selber kein Großreinemachen veranstalten: dafür war ein Zivi zuständig, der zweimal in der Woche für zwei Stunden kommen sollte, aber nur jeweils fünf Minuten blieb, in denen er mit ihr eine Zigarette rauchte, worauf er sich das Ableisten der Gesamtzeit von ihr schriftlich bestätigen ließ, indem sie ein ausgefülltes Formular unterschrieb – und der Sunnyboy machte sich aus dem Staub, sprang in sein Cabrio, das er zum Abi bekommen hatte, und düste davon, während sie ihm lächelnd nachwinkte mit ihrer Klaue, in der immer noch ihr Kuli blitzte, mit dem sie meine Stundenzettel nicht quittierte, weshalb ich dauernd Schwierigkeiten hatte, meinen Lohn zu bekommen. Wie sollte sie meine Anwesenheit auch bestätigen, wenn sie sich bei meiner Ankunft meist sofort mit dem Hinweis entfernte, sie störe hier ja doch bloß? Hinterher bemerkte sie noch nicht einmal, daß ich ihr neue Gardinen aufgehängt hatte, während sie auf Betteltour in der Nachbarschaft gewesen war, wie ich dann von den Leuten erfuhr, die mich über dem Jägerzaun ihres Grundstücks herbeiwinkten und wissen wollten, ob es stimme, daß sie kein Geld mehr bekomme und sich nicht mal was zu essen kaufen könne.

Auch die junge Frau vom sozialpsychiatrischen Dienst beachtete sie nicht. Es war ein merkwürdiges Bild, die Behinderte über einen Stapel Papier gebeugt und endlose Schleifen darauf malen zu sehen: sie konnte stundenlang auf diese Weise „schreiben“, ohne es wirklich zu tun, denn was sie da aufs Papier malte, waren Kringel und Wellen, Striche und Bögen, die Buchstaben nur imitierten, in ihren Verschlingungen aber scheinbar nichts zu bedeuten schienen, außer vielleicht Geheimzeichen für sie – während die andere, ein Bein über das andere geschlagen, vorgebeugt daneben saß, geduldig zuschaute, ein Gespräch in Gang zu bringen versuchte, ohne daß sie auch nur eines Wortes gewürdigt wurde, sie, so hübsch und gesund, wie die Rollstuhlfahrerin häßlich und krank wirkte, und ich hantierte unterdessen in der Wohnung herum, kratzte an den verkrusteten Herdplatten oder den Kalkstein aus der Kloschüssel und wünschte mir, das Mädchen vom sozialpsychiatrischen Dienst hätte wenigstens einen Bruchteil jener Aufmerksamkeit für mich übrig wie für ihre sie total ignorierende Klientin.

Die ohnehin schon verfahrene Situation wurde noch verschärft durch die neue Regelung, daß die ihr zustehende Sozialhilfe nach Abzug aller Lebenshaltungskosten jetzt nicht mehr monatlich mit einem Mal, sondern nur noch wochenweise ausgezahlt werden sollte, da sie ihr Geld nicht einteilen konnte: gleich fuhr sie damit zur nächsten Frittenbude, setzte den Rest in Süßigkeiten, Salzgebäck und Cola um, konsumierte alles noch am selben Tag und hatte für den Rest der Woche nichts mehr zu essen und zu rauchen. Der Betreuer wollte ihr das alles nicht persönlich sagen, sondern es ihr über mich mitteilen lassen, doch ich weigerte mich. Also mußte die psychologisch geschulte Fachkraft ran, und prompt kriegte sie die geballte Ladung Haß ab. Die Wütende fuhr mit ihrem Rollstuhl gegen die Möbel, warf sich in ihm hin und her, stieß Verwünschungen aus, bis sie nur noch röchelte und einen Erstickungsanfall bekam, woraufhin ich ihr das Mundstück des Zerstäubers zwischen die blauen Lippen schob und mehrmals drückte, damit die Sprühstöße ihr den Krampf in den Bronchien lösten. Wieder zu Atem gekommen, startete sie eine Attacke gegen die vermeintliche Diebin, die sich nur noch durch Flucht retten konnte und die nächste Zeit hier nicht mehr aufkreuzen durfte – nein, sie hatte bei ihr verschissen, und ich hätte das auch, wenn ich nicht den Geldboten gespielt und ihr das Almosen, wie sie es nannte, in die bedrohlich zuschnappende Klaue gesteckt hätte, worauf sie mit quietschenden Rädern davonfuhr und mir mit der freien Hand ein Zeichen machte, das nur der Eingeweihte als Stinkfinger verstand.

Sie öffnete mir nur noch zum Wochenanfang, wenn ich mit dem Geld ankam, und wollte ich, schon mal in ihrer Wohnung, mit dem Aufräumen und Saubermachen beginnen, schmiß sie mich raus, es sei denn, ich brachte ihr ein Päckchen Zigaretten auf meine Kosten mit – aber das zog auch nur die erste Zeit. Also verlegte ich mich darauf, sie in die Imbißbude eines Asiaten einzuladen: der einzigen, wo sie wegen ihrem Uringestank noch kein Hausverbot bekommen hatte – doch wir durften nur draußen sitzen (sie wäre mit ihrem sperrigen Rollstuhl ohnehin nicht in die enge Bude hineingekommen), und so saßen wir in den Abgasen der Niehlerstraße, stumm wie zwei Grabsteine, während sie ihr Getränk in einem Zug austrank, das Schaschlik mit wenigen Happen vom Holzspieß abzog und wieder weg wollte, sobald sie fertig war, egal, ob ich noch vor der kaum angerührten Portion meiner Fritten saß: die schob ich ihr dann auch noch hin, aber nur, wenn sie mich nachher wenigstens eine Waschmaschine voll Wäsche waschen ließ.

Ich hätte nicht geglaubt, daß es das gibt, aber sie dünstete tatsächlich nicht nur üble Körpergerüche aus, sondern auch Wolken von Depression, Niedergang und Verrottung, eine derart negative Energie, daß ich davon infiziert wurde und, sobald ich bei ihr war, Selbstmordwünsche bekam. So ging das nicht weiter: ich wollte diesen Job schmeißen – da bekam sie eine Thrombose, mußte für mehrere Wochen ins Krankenhaus, und ich verschob fürs erste meine Kündigung, besuchte sie dort und fand sie zum ersten Mal geschrubbt und gebadet in einem schneeweiß bezogenen Bett vor: ein so freundlicher Anblick, daß ich unwillkürlich lächelte und ihr freudig Blumen, Chips und Weintrauben überreichen wollte. Doch sie beachtete meine Geschenke gar nicht, sondern verlangte sofort ihr wöchentliches Taschengeld. Ich zuckte entschuldigend die Schultern: hatte der Betreuer ihr das nicht gebracht? Da stellte sie stumm den Fernseher an der Zimmerdecke mit der Fernbedienung an, stellte ihn laut, um klarzumachen, daß sich jedes weitere Gespräch erübrigte, schaute sich einen Zeichentrickfilm an und stopfte die Chips in sich hinein. Na dann – ich zog die noch eingeschweißte Zigarettenschachtel aus meiner Hemdtasche, spielte damit herum und ließ sie wieder verschwinden. Zack, war die Flimmerkiste wieder aus. Sie wälzte sich in ihren Rollstuhl, obwohl sie ihr dickes Bein hochgelagert halten sollte, und fuhr schnurstracks in den Raucherraum. Dort rauchte sie schweigend eine nach der anderen, bis ich mich erhob, einen Abschiedsgruß murmelte, den sie nicht erwiderte, und mich verdrückte.

Kurz nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus hatte sie einen psychotischen Schub. Diesmal sollte es länger dauern, einige Monate, und ich brachte Kleidungsstücke in einer großen Reisetasche in die Psychiatrie, wo sie sich dem Personal genauso verweigerte wie uns draußen in ihrer Wohnung, so daß sie von morgens bis abends in einer Ecke hockte, kannenweise Kaffee trank und rauchte, was sie von anderen schnorren konnte. Ich war ihr bloß als Nachschublieferant für Tabak willkommen, und sie kriegte einen Wutanfall, als ich wieder mal kein Geld für sie dabei hatte. Beim Verlassen der Station fing mich die junge Ärztin ab und verlangte etwas Ungeheuerliches von mir: ich solle ihren Betreuer anzeigen, der, das sei allgemein bekannt, ein notorischer Betrüger sei und sich an seinen Klienten schamlos bereichere. Warum sie oder andere das nicht machten, wollte ich wissen, und sie erklärte, sie stehe unter Schweigepflicht und könne in ihrer Situation nicht so handeln, wie sie gerne möchte. Wenn aber ich den Mann anzeigte, so ich zu ihr, würde er den Spieß umdrehen, mich wegen Verleumdung verklagen, und außerdem bekäme ich dann keinen Cent mehr von dem Geld, das er mir noch schulde, erwiderte ich, bedauerte und ging.

Dieser Mann, mit dem ich mich nicht anzulegen wagte, rief mich nach einigen Wochen an und erklärte, die Wohnung der Behinderten müsse für ihre Entlassung in Ordnung gebracht werden. Ich antwortete, die Frau gehöre in ein psychiatrisch betreutes Heim und nicht in ihre alte Umgebung, wo sie mit Sicherheit einen neuen Schub bekommen würde. Ich ließ mich mal wieder breitschlagen und schüttele mich noch heute, denke ich an die Drecksarbeit, die ich mir da aufgehalst hatte, besonders an das verfaulte, zum Auftauen in den Ofen gestellte Hähnchen, das von Maden wimmelte: es verbreitete einen Gestank, an den ich bald darauf auf eine grausige Weise erinnert werden sollte.

Sie kam zurück, und ihre Wohnung, von mir unter Brechreiz einigermaßen auf Vordermann gebracht, sah bald wieder so verwahrlost wie eh und je aus. Mir unterstellte sie übrigens, dies und das gestohlen zu haben, und ich konnte mich gegen diesen Verdacht nur wehren, indem ich darauf hinwies, daß die Tür auf ihren eigenen Wunsch hin aufgebrochen worden war, so daß jeder ungehindert hineingelangen konnte. Knapp einen Monat später (die Tür war längst repariert) ging ich an einem Montagmorgen zu ihr, um das übliche Wochengeld bei ihr abzuliefern. Außerdem war ich mit dem Mann von der Post verabredet, der ihren wieder einmal herausgerissenen Telefonanschluß in Ordnung bringen sollte. Eigentlich hatte er die Reparatur schon am Freitag durchführen sollen, doch da war Tag der Deutschen Einheit – also ging es erst jetzt. Da stand ja auch schon der Monteur, genervt, weil ihm nicht aufgemacht worden war, und er zog fluchend ab, als sie auch auf mein Klopfen und Bitten nicht öffnete. Wie oft hatte ich schon hier gestanden, mir die Knöchel wund geschlagen und die Stimme aus dem Hals gerufen – doch diesmal war es anders: immerhin hatte ich heute Geld für sie, und das nahm sie gewöhnlich schon am Hauseingang in Empfang, um gleich damit abzudüsen. Etwas stimmte nicht – auch meinte ich einen süßlichen Verwesungsgeruch wahrzunehmen – hatte sie wieder ein vergammeltes Hähnchen im Ofenrohr? Ich ging zum Hausmeister, der beim Ausbessern der Tür ein neues Schloß eingesetzt und davon sicherheitshalber einen Zweitschlüssel zurückbehalten hatte – doch damit ließ die Tür sich von außen nicht aufschließen: ihr Schlüssel mußte von innen noch stecken und sie somit in ihrer Wohnung sein. Sollte ich die Feuerwehr rufen? Und wenn die anrückte, käme sie womöglich von ihrer Betteltour um die Ecke gefahren und beschimpfte mich. Ich stieg über das zwei Meter hohe, zackenbewehrte Stahlgitter in den Vorgarten, um durch das Fenster oder die Terrassentür in die Wohnung zu gelangen oder wenigstens einen Blick hineinzuwerfen. Aber alle Rolläden waren heruntergelassen. Weil aber der Schlüssel innen im Schloß steckte und gleichzeitig der Hinterausgang von innen verrammelt war, wurde mir klar, daß sie sich in der Wohnung befand. Vielleicht war sie sturzbesoffen oder aus dem Rollstuhl gekippt – aber dann hätte sie doch irgendwelche Zeichen von sich gegeben.

Feuerwehr, Polizeifahrzeuge und Krankenwagen, alle mit Blaulicht, blockierten die Einbahnstraße. Männer in martialischer Kluft und Helmen mit offenem Kinnriemen und Nackenschutz marschierten dröhnend durch den Hausflur. Polizisten, blutjunge Burschen, nahmen meine Personalien auf. Dann erschienen ältere Männer, die sich als Kripobeamte auswiesen und Fragen stellten. Der Betreuer war wieder einmal nirgendwo zu erreichen - also hielten sie sich an mich. Doch ich verlor die Fassung und verstummte abrupt. Ich zog mein Notizbuch hervor, in dem alle Adressen standen, und einer der jungen Polizisten, dem die Sache hier ebenfalls an die Nieren zu gehen schien, lobte mich dafür, worauf ich mich umdrehen mußte und nur noch schweigend, mit Achselzucken, Nicken oder Kopfschütteln Antwort geben konnte. Ein Mann in Zivil schleppte eine riesige Werkzeugkiste herbei. Polizisten gingen mit gezückten Pistolen und Feuerwehrmänner mit bereitgehaltenen Gasmasken und Löschspritzen in Lauerstellung, als erwarteten sie eine ausbrechende Gangsterbande oder eine Explosion hinter der Tür, die der Mann mit dem Werkzeug nun aufbrach. Sie bewegte sich kreischend in den Angeln, dann Stille, während zugleich ein betäubender Gestank aus dem Spalt drang: so ähnlich hatte auch das verrottete Hähnchen gerochen. Mir schwante Böses, und mir wurden die Knie weich. Ich stützte mich auf die Fensterbank, atmete gierig die Frischluft ein und nahm den Tumult bloß noch nebelhaft wahr. Ein Weißkittel tauchte wie ein Gespenst vor mir auf, sprach mich an, aber ich zuckte verständnislos die Schultern, fragte mit trockenem Mund, ob sie da drin sei, worauf der Mann nickte, und das erste, was ich spürte, war Erleichterung darüber, keinen falschen Alarm ausgelöst zu haben. Doch dann wurde mir klar, was mir bevorstand, besonders als der Weißkittel wieder zu reden begann: er stellte sich als Arzt vor, der den Tod festgestellt habe, aber jetzt bräuchten sie einen Zeugen, der die Verstorbene identifizieren könne. Ich folgte ihm, nein, schwebte ihm nach wie auf Gas, hielt mir unwillkürlich die Hand vor die Nase und wäre geflohen, hätten meine Beine noch normal funktioniert. Der Arzt faßte mich unter, und ich sah die Frau von hinten mit einem Gefühl, als dröhne die Stille, als steige das Absolute in eisiger Schwärze vor mir auf, doch es war nur eine Schwäche, und ich riß mich fröstelnd zusammen. Sie war nur mit einem T-Shirt bekleidet, in ihrem Rollstuhl vornübergekippt, mit dem Gesicht in die hüllenlosen, aufrecht im Ständer stehenden Schallplatten hinein, deren scharfe Kanten ihre Wange verletzt hatten, wie ich sah, als der Arzt ihr Gesicht mit Gummihandschuhen anhob, das einen Ausdruck der Verblüffung zeigte, gepaart mit Entsetzen, wie ich an den hervorgequollenen Augen zu erkennen meinte, die trübe, gallertartig ins Nichts starrten, und die Zunge quoll dick und violett aus dem fahlen Gesicht, als hätte sie sie abbeißen wollen, um Luft durch das Loch der gespitzten, wie zusammengezurrten Lippen zu schnappen. Ob sie einen elektrischen Schlag bekommen habe, fragte ich möglichst sachlich und zeigte auf die herabhängende Hand, die nun wie eine Schweinepfote aussah und in diese Art Zehen auslief, die an der Spitze violett, fast schwarz waren, und das Handgelenk war blau angelaufen: eine Spur, die sich, immer schwächer werdend, am Oberarm verlor. Es seien die ersten Zersetzungserscheinungen, erklärte der Arzt behutsam, und ich staunte, daß schon nach so kurzer Zeit die Verwesung eingetreten war. Die überheizte Wohnung hätte dem Vorschub geleistet, sagte der Mann und reichte mir ein Schreibbrett, auf dem ich das festgeklemmte Blatt mit zittriger Hand unterschrieb. Ehe ich ging, sah ich, daß die Tote den Hörer des Telefons mit der anderen violetten Klaue umklammert hielt, und das kam mir wie ein Schuldspruch vor: hätte ich mich beherzter beim Stördienst durchgesetzt und wäre die Leitung schon letzte Woche in Ordnung gebracht worden, hätte sie vielleicht noch den Notruf anwählen können. Dann kamen Männer mit dem berühmten Zinksarg, den ich aus dem Fernsehen kannte, während ich Richtung Ausgang die Flucht ergriff.

Später rief mich der Betreuer an: die Wohnung müsse entrümpelt und ihr Rollstuhl, den die Leihfirma zurück haben wolle, gereinigt werden, ob ich das mache, und ich sagte erst zu, dann wieder ab, nachdem ich die immer noch nach Verwesung riechende Wohnung betreten, einen eingetrockneten Kothaufen im Rollstuhl vorgefunden und mich fast übergeben hatte.

 Einige Wochen darauf rief mich der Betreuer noch einmal an und verlangte zweihundert Euro zurück, die bei der Endabrechnung angeblich gefehlt hätten. Ich erklärte, nichts veruntreut zu haben, jede Ausgabe mit einer Quittung belegen zu können, und der Kerl drohte mir mit einer Anzeige. Dann sehen wir uns eben vor Gericht wieder, sagte ich, legte auf und hörte nie wieder was von ihm.


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