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Vision

 

Auf der Waldhausterrasse die Kellnerin. Breite Hüften. Ihre Brüste hängen schwer, zeichnen sich ab unter der Bluse, von den einschneidenden Riemen des Büstenhalters gestützt: eine süße Last, die in mir ein wehes Ziehen auslöst. Unwillkürlich habe ich die mit Plastikstegen verstärkten Stoffschalen vor Augen, die das weiche Gewebe halten. Es schaukelt und bebt bei jedem ihrer Schritte auf den unpraktisch hochhackigen Schuhen. Drei Tische weiter ein Mann mit Glatze, der ebenfalls guckt, als wolle er hineingreifen in das dralle Frauenfleisch. Feuchte Ringe unter den Achseln: sie dünsten einen verschwitzten Parfümgeruch aus, wenn sie sich hingibt, mit hochgereckten Armen, während der Glatzkopf sie aus ihren knappen Hüllen schält, stelle ich mir vor und merke, daß ich meine eigene Erregung auf ihn übertrage – gut, daß es keiner mitkriegt.

     „Mama!“ ruft ein Mädchen, maulend, genervt, weil die sich nur um die Gäste kümmert. Da steht es im Türspalt, blond, nein, blondgefärbt, erkennbar am dunklen Haaransatz – die färben sich auch immer früher! Das Haar fällt vom Mittelscheitel nach links und rechts in glatten, weichen Bögen zu beiden Seiten ins Gesicht, bis zu den Wangen, noch weiter – gestoppt von einer plötzlichen Kopfbewegung, die etwas Tichaftes hat und die Strähnen zurückschleudert. Die tasten sich dann wieder vor: kitzelnde Fühler auf der hellen Haut, weich und fest zugleich – unsagbar köstlich, stelle ich mir vor, geschmeidig, vollkommen trotz einer Pustel knapp über der rechten Braue, die, dunkel wie ihr Haaransatz, seidig und dicht wie der Pelz einer Raupe unter dem Pony verschwindet und bruchstückhaft wieder auftaucht, als der auseinanderfällt und erneut in die Stirn rutscht, von beiden Seiten, als würden durchbrochene Gardinen über die blaugrauen Augen gezogen.

     „Ma-ma!“ ruft sie jetzt schrill, wütend, scheint mir, mit gespannten Stimmbändern, die ihre Stimme blank, hart, hysterisch erklingen lassen. Wie zur Bekräftigung schleudert sie ihre Mähne zurück, so daß ihr ganzes Gesicht für einen Moment freigelegt wird: preisgegeben meinem faszinierten Blick, der wegzuckt, ertappt, erschreckt von dem Glitzern ihrer Augen und dem erneuten, wie ein aufblitzendes Messer ausgestoßenen Schrei – ein Wurfgeschoß nach der Mutter. Die, wie im Nacken getroffen, zieht den Kopf ein, duckt sich nach vorn, mit ihrer Brust fast ins Gesicht des kahlen Mannes, der soeben bezahlen will und zurückfährt. Die Frau dreht sich um und fährt ihre Tochter an, sie habe zu tun.

     Eben noch wie ein Bogen trotzig gespannt, erschlafft das Mädchen in einer widerstandlosen Haltung. Fast demütig, mit gesenktem Kopf und geschlossenen Haargardinen, die Lippen schmollend vorgestülpt, erklärt sie jetzt murmelnd, sie habe sie ja bloß wegen einer Rechenaufgabe fragen wollen. Dann reißt sie sich herum und verschwindet im Haus, aus dem gleich darauf eine fauchende Katze herausfährt, wie fortgejagt von dem Mädchen, das sich türenknallend entfernt: jeder Rums eine immer gedämpftere Explosion.

     Vor mir die erstarrte Katze: getigert, graubeige. Trotz ihrer Unscheinbarkeit hat sie etwas Besonderes, Stolzes, Ästhetisches. Leuchtende Bernsteinaugen, darin der senkrechte Keil der Pupille. Sie setzt sich mit einer Geschmeidigkeit in Bewegung, die das Gesetz der Schwerkraft scheinbar aushebelt. Plötzlich ist sie auf der Brüstung, mit einem Satz, der nicht an einen Sprung, sondern an Zauberei erinnert: wie von Geisterhand haraufgeschnippt – da hockt sie auf dem Holzgeländer, das die überdachte Terrasse vom Vorplatz trennt.

     Schnurrend fixiert sie meinen Teller, bebend, als stehe sie unter Strom, mit vibrierendem Schwanz, der sie, gegen die Latten gedrückt, im Gleichgewicht hält: das Geländer ist mit schräg abfallendem Aluminium verkleidet – erstaunlich, wie die Katze Halt darauf findet. Ihre Pfoten scheinen mit Saugnäpfen oder Klebeballen ausgestattet zu sein, wie bei Fliegen, die auf glatten Scheiben herumwandern können. Jetzt hebt sie die vordere Pfote, als wollte sie Pfötchen geben, setzt sie etwas weiter vor wieder auf und hebt die andere. Ihr Körper zieht sich lang und länger. Sie streckt sich und gähnt – jedenfalls sperrt sie das Maul weit auf und entblößt ihr perfektes Gebiß: feine Elfenbeindolche.

Doch es ist kein Gähnen. Vielmehr zieht sich ein Speichelfaden herab, silbrig, und reißt von den rosigen Lefzen ab, tropft mir fast ins Essen: igitt. Neue Fäden ziehen sich jetzt von beiden Seiten aus ihrem Maul – der Sabber trieft ihr buchstäblich vor Gier. Sie wird unvorsichtig, gar tollkühn: mit nun gebuckeltem Rücken und erhobenem Schwanz, der hin- und herruckt, tänzelt sie über meinem Zigeunerschnitzel, auf das ich keinen Appetit mehr habe.

Ihre Pfote schlägt mit ausgefahrenen Krallen nach meinem Teller. Sie rutscht auf ihrem eigenen Speichel aus, gleitet vom aluminiumbeschlagenen Geländer, landet kurz auf dem Tisch und von dort auf dem Boden, wobei sie mit fegendem Schwanz mein Bierglas herunterwischt. Es zersplittert. Schäumend auseinanderlaufende Pfütze – Aufschrei der Wirtin: ein O-förmiges Loch in ihrem Gesicht. Sie kommt aus dem Gastraum gestürzt, mit einer Behendigkeit, die ich ihr gar nicht zugetraut hätte, und die Katze reißt aus vor der Serviette, mit der die Frau nach ihr schlägt, während sie sich bei mir entschuldigt.

Nicht so schlimm, wiegele ich ab und akzeptiere das neue Bier auf Kosten des Hauses. Sie bringt es auf einem Tablett herbei, Besen und Kehrblech in der anderen Hand, und beginnt dann die Scherben zusammenzufegen. Ihr Lächeln erinnert an das junge Gesicht ihrer Tochter: wieder das wehe Ziehen in mir.

Ich trinke schnell aus und bezahle: sonst besaufe ich mich noch aus lauter Sentimentalität. Wie auf tönernen Füßen tappe ich die Stufen zum Vorplatz hinab. Ihre Blicke meine ich wie Fühler im Rücken zu spüren: unsichtbare Antennen, die immer weiter aus ihren Augen herausfahren, um den Abstand zwischen uns zu überbrücken. Ich drehe mich um: niemand beachtet mich, nicht mal die Katze. Sie ist wieder aufs Geländer gesprungen und nähert sich jetzt dem einzig verbliebenen Gast, der dem Haus zugekehrt sitzt. Seine Holzwände sind rot angestrichen. Im ersten Stock öffnet sich ein Fenster. Es blitzt unter dem Sonnenstrahl, der über die Scheibe huscht, und das Mädchen erscheint wie auf einer Ikone, nur daß der Hintergrund schwarz statt golden ist. Intensiv hebt sich das blonde Haar ab.

Meine Beine knicken ein, und ich knie nieder, tue so, als wollte ich mir die Schuhbänder binden. Ich sehe wieder hin und werde geblendet vom spiegelnden Glas des nun geschlossenen Fensters – auf meiner Netzhaut das Negativ der Vision von vorhin: ihr Schattenriß im leuchtenden Umfeld.


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